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26.07.03 / Wer die Stille liebt wie ich

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 26. Juli 2003


Wer die Stille liebt wie ich
von Renate Dopatka

Die nackten Zehen im weichen, warmen Sand vergraben, den Rücken an einen schorfigen Kiefernstamm gelehnt, so saß sie da und schaute aufs Wasser hinaus. Ganz still war es hier. Von leisem, kaum merklichen Wellenschlag bewegt, ruhte der See unter sengender Mittagssonne. Kein Schiff, kein Badegast ließ die seidene Glätte erzittern, kein Ruf zerschnitt die Lautlosigkeit. Dicht bewaldete Uferhöhen, die sich als dunkler Reif im Wasser spiegelten, säumten den See. Sie gaben ihm sein verschwiegenes, romantisches Gepräge, waren die Fassung der tiefblauen Perle.

Ihre Augen füllten sich mit Glück. Ein Gefühl tiefer innerer Verbundenheit mit diesem Fleckchen Erde machte sich breit. Wie vertraut war ihr der Anblick dieses zauberischen Ortes, wie vertraut der Atem von Stille und Zeitlosigkeit ...! Hineingeboren in diese ganz besondere, einzigartige Stille und Jahre später gewaltsam aus ihr herausgerissen, hatte sich Vera zeitlebens nach ihr zurückgesehnt ...

Nun aber war alles gut. Ihr Traum hatte sich erfüllt. Und köstlich war die Gewißheit, daß das Land selbst sich nicht verändert hatte, daß es noch immer den sanften, ruhigen Pulsschlag besaß, der dem ihren so völlig entsprach.

Sie schloß die Lider. Doch die Bläue des Sees wollte nicht verblassen. Bilder tauchten auf. Ein Film aus anderer Zeit begann sich vor ihr abzuspulen. Vergangenes stieg an die Oberfläche und zog Vera erneut in seinen Bann.

Deutlich sah sie die Szene vor sich: Das Mädchen, das selbstvergessen auf den See hinausblickte, den Jungen an seiner Seite nur unterschwellig wahrnehmend ... Dann aber tönte seine Stimme ans Ohr des Mädchens. Er sprach von der Zukunft, die klar und geordnet vor ihm zu liegen schien. Hinaus wollte er, dorthin, wo es Neues zu entdecken gab und Abenteuer und Herausforderungen auf ihn warteten. Hinaus aus der Stille, mit der er nichts anzufangen wußte, die nur bedrükkend, ja lähmend auf ihn wirkte. Auch ihr, der Fünfzehnjährigen, hatte er eine Rolle in seiner Lebensplanung zugedacht. Und an seinem Tonfall konnte sie erkennen, wie gewiß er sich ihrer Zustimmung war. Hätte er leise gesprochen oder sich ihr lediglich mit der Kraft seiner Gedanken und Empfindungen verständlich gemacht - vielleicht wäre auch in ihr erwacht, was jetzt noch im Verborgenen schlummerte. Doch seine Stimme klang allzu laut, allzu bestimmend, und als er sie anschaute, da verlor sich sein Blick nicht in dem ihren, suchte keinen Gleichklang, sondern zeigte den gewohnten Ausdruck nüchterner Entschlossenheit.

Ja, sie täuschte sich nicht: Er ließ der Stille, dem langsamen Entfalten von Wünschen und Gefühlen keinen Platz. Für ihn gab es nur zielgerichtetes Planen und rasches Handeln, so wie er sich all die Jahre hindurch stets dem Greifbaren, Vordergründigen zugewandt hatte. Während sie von Kahn oder Bootsteg aus spielerisch ihre Finger durchs Wasser gleiten ließ und dabei mit leichtem Schaudern die aus der Tiefe des Sees aufsteigende Kühle empfing, wußte sich ihr Gefährte mit Ruder, Angelzeug und anderem praktischen Gerät zu beschäftigen. Er redete, sie hörte zu, und damit waren beide eigentlich ganz zufrieden gewesen.

Doch aller Freundschaft zum Trotz gab es eine unsichtbare Grenze zwischen ihnen, die keiner unbeschadet überschreiten würde. Sie wußte, sie wollte die Stille behalten, und so war sie einfach aufgesprungen und davongelaufen - damals, als er von einer gemeinsamen Zukunft sprach und dabei in Wahrheit nur die seine meinte ...

Vom Schilf her ertönte das dumpfe "Prumb" einer Rohrdommel. Ihr Ruf holte Vera in die Gegenwart zurück. Ein wenig verschlafen, wie nach langem Traum, blickte sie um sich und gewahrte die hohe, hagere Gestalt ihres Mannes, der jetzt, nach kurzem Streifzug, aus dem Wald trat. Lächelnd schaute er auf sie hinunter: "Glücklich, meine Liebe?" Sie nickte, streckte die Hand nach ihm aus ...

Leise ächzend, aber mit einem heiteren Ausdruck in den Augen, ließ er sich auf dem Sandstreifen nieder. Minutenlang sprach keiner von ihnen ein Wort, dann spürte Vera seinen verschmitzt-fragenden Seitenblick: "Schön ist es hier. Vielleicht sollten wir gar nicht mehr fortgehen?" Voller Zärtlichkeit schaute sie ihn an. Er war kein Kind dieser Landschaft. Doch ihr eigentümlicher Zauber nahm auch ihn gefangen. Dankbar drückte sie seine Hand. Erst in späten Jahren hatte sie ihn gefunden - den Mann, der wie sie die Stille liebte...

Schönes Masuren: An einem der idyllischen Seen, wo man noch heute Ruhe und Erholung findet Foto: Donner