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09.08.03 / "Darmstadt" lag am Schwarzen Meer / Deutsche aus Rußland, Teil I: Die Anfänge der deutschen Siedlungen an der Wolga

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 09. August 2003


"Darmstadt" lag am Schwarzen Meer
Deutsche aus Rußland, Teil I: Die Anfänge der deutschen Siedlungen an der Wolga
von Uwe Greve

Das größte deutsche Siedlungsgebiet von Deutschen in Rußland erstreckte sich an der unteren Wolga in den ehemaligen russischen Gouvernements Saratow und Samara. Das Gebiet weist eine beinahe gegensätzliche geographische Struktur auf. Das Gouvernement Saratow auf der rechten Seite des Flusses wird von einem hohen Plateau geprägt, das steil zum Fluß hin abfällt. Das Gouvernement Samara auf der linken Seite der Wolga ist ein Wiesengebiet mit besonders hoher Fruchtbarkeit. Die saratowchen Siedlungen lagen zumeist in den Tälern der Nebenflüsse der Wolga; die samarischen Ansiedlungen lagen näher am Fluß.

An der unteren Wolga entstanden rund 200 Kolonien mit einer Einwohnerzahl von später etwa je 5.000 bis 15.000 - Riesendörfer, was die Siedlungsart anging -, dazu einige hundert Kleinsiedlungen. Ringsherum gab es russische, kirgisische und tatarische Dörfer. Mehr als 600.000 Deutsche zählte dieses Siedlungsgebiet zu Beginn des Ersten Weltkrieges.

Böser Fehlschlag

Die Grundlage für diese Entwick-lung bildeten zwei Erlasse der russischen Kaiserin Katharina II., über die Paul Rohrbach in seinem nach dem Ersten Weltkrieg erschienenen Buch "Deutschtum in Not" schrieb: "Katharina II., die deutsche Prinzessin auf russischem Zarenthron, hatte den großzügigen Plan gefaßt, die wilden und wüsten Gebirge ihres machtvoll ausgedehnten Reiches durch Anlegung planmäßiger deutscher Siedlungen für die Kultur erschließen zu lassen. Sie gab ihren Willen in einem Manifest vom Jahre 1762 den europäischen Völkern kund. Aber dieses erste Manifest fand keinen Widerhall. Die Siedler blieben aus.

Die Begründung für diesen Mißerfolg gibt Katharina II. selbst an. In ihrem zweiten Manifest, jenem wichtigen und für spätere Zeiten vorbildlichen Staatsakt, auf Grund dessen die Voreltern der Wolgadeutschen ihre alte Heimat verließen, um sich in Rußland eine neue zu schaffen. Hatte das erste Manifest vom Jahre 1762 nur Versprechungen ganz allgemeiner Art enthalten, ohne die Rechte der Auswanderer in Einzelheiten festzulegen, so wurde das Versäumte in dem Manifest vom 22. Juli 1763 um so eingehender nachgeholt. Es enthielt alles, was sich Auswanderer nur wünschen konnten.

Zusagen der Zarin

Besondere Werbekraft hatten folgende Bestimmungen: Große russische Ländereien mit ihrem Reichtum und einer für Handel und Gewerbe angeblich bequemen Lage wurden den Kolonisten zur freien Wahl gestellt. Wahl des Wohnorts, des Berufes und freie Religionsausübung wurden zugesagt. Den Unbemittelten wurden die Reisekosten versprochen. Zum Häuserbau und zur Anschaffung von Geräten sollten Vorschüsse gewährt werden. Den Kolonisten wurden Selbstverwaltung, eigene Rechtsprechung und, erforderlichenfalls, eine Schutztruppe zugesichert. Allen Auswanderern und ihren Nachkommen wurde Befreiung vom Militärdienst und freie Rückwanderung gewährleistet, ferner für die ersten zehn Jahre Befreiung von allen Abgaben und Steuern. Weitere Vorrechte wurden auf Grund späterer Verhandlungen in Aussicht gestellt und die wichtigsten von ihnen auch auf die Nachkommenschaft für "ewige Zeiten" ausgedehnt.

Der große Zug ins "wüste" Gebirge

Der Zug der Geworbenen, in erster Linie aus dem westlichen Teil Deutschlands, ging zuerst in Richtung Petersburg. Viele wurden über Lübeck mit dem Schiff nach Kronstadt befördert und nach einem Aufenthalt in Kasernen in Richtung Petersburg weitergeleitet. Einige Handwerker durften in diesem Raum bleiben. Sie bildeten mehrere kleine Siedlungen am Rande der Stadt, die bis zum Ersten Weltkrieg bestanden. Die große Mehrheit mußte sich unter schwierigsten Umständen ins Gebiet der unteren Wolga aufmachen. Krankheit, Hunger, Scharmützel mit Räuberbanden und Nomaden dezimierten sie. Etwa 8.000 Familien mit rund 30.000 Seelen erreichten zwischen 1764 und 1767 das Zielgebiet.

Sie kamen nach Hausbau und Urbarmachung des Bodens schnell auf die Beine. Die Vorschüsse der russischen Regierung waren bald zurückgezahlt. Ihre Selbstverwaltung funktionierte und war nur der "Schutzkanzlei" in Petersburg unterstellt.

Interessant ist für uns heute noch, daß der Boden seit Anfang des 19. Jahrhunderts hier Gemeineigentum war, "Mir" genannt. Etwa alle zehn bis zwölf Jahre wurde er neu aufgeteilt. Jeder Bauer erhielt ein Stück guten, mittleren und schlechten Bodens, so daß alle Familien ähnliche Anbauvoraussetzungen besaßen. Der Nachteil dieser Regelung war, daß bei vielen Bauern das Interesse an rationeller und weit vorausschauender Bewirtschaftung verschwand und Raubbau einsetzte.

Die hohen Geburtsraten in den deutschen Ansiedlungsgebieten führten Mitte des 19. Jahrhunderts zu erheblicher Ausweitung. Neues Land wurde unter erheblichen Opfern angekauft, in erster Linie auf der Wiesenseite. Diese neuen Siedlungskolonien wurden von ihren Mutterkolonien partnerschaftlich unterstützt, bis sie aus eigener Kraft lebensfähig waren. Einige Familien wanderten auch in Richtung Kaukasus ab und bildeten dort neue Kolonien.

Östlich der "alten" deutschen Siedlungsgebiete an der Wolga siedelten sich ab 1853 deutsche Mennoniten an, die neue Impulse in die deutschen Kolonistendörfer brachten, wo jetzt bereits die dritte und vierte Generation lebte.

Dampfmühlen in der Tatarensteppe

Durch eine rationelle Bewirtschaftung mit Ackergeräten, wie sie die russischen Bauern damals nicht besaßen, erzielten die Deutschen hohe Erträge. Sie erzeugten neben einem viel gelobten Weizen auch Gerste, Roggen, Hirse und Hafer. In eigenen Mühlen wurde das Korn verarbeitet. Später, Mitte des 19. Jahrhunderts, wurden die ersten Dampfmühlen in Betrieb genommen. Bald entstanden in den großen Dörfern auch kleine Maschinenfabriken, die selbst landwirtschaftliche Geräte und Maschinen herstellten.

Daneben entstanden Webereien, die weit über den Raum der deutschen Kolonisten hinaus ihre Tuche im weiten Rußland vertrieben. Wo Viehwirtschaft möglich war, wurde auch diese zum Erfolg. Daraus entwickelte sich eine blühende Lederfabrikation. Auch das Handwerk entfaltete sich erfolgreich; dazu kamen Speicher, Stapel- und Umschlagplätze, also ein erfolgreiches Handelswesen.

Das gesamte Leben der Wolgadeutschen war von harter Arbeit geprägt. "Sich regen, bringt Segen" lautete dort das am meisten übliche Sprichwort. Mittelpunkt des kargen kulturellen Lebens waren die Kirchen, die lange Zeit auch Träger der Schulen waren. Die Küster waren oft auch Lehrer - freilich mit bescheidenen Kenntnissen. Später entstanden "Zentralschulen", in denen die Küster eine Ausbildung für ihre Lehrtätigkeit erhielten. Freilich ebenfalls noch auf sehr niedrigem Niveau. Unterrichtet wurde nur in den Wintermonaten. Ende des 19. Jahrhunderts wurde die öffentliche russische Schule zur Pflicht. Die Russifizierung der Wolgadeutschen begann. Die einst von Kaiserin Katharina II. abgegebenen "ewigen Versprechen" auf die Beibehaltung der deutschen Sprache, Kultur und des Gottesdienstes interessierten die russische Verwaltung nicht mehr. Aufgehoben wurde auch die Militärfreiheit.

Erst die Türken, dann die Deutschen

Die Russifizierungsbestrebungen führten dazu, daß die Deutschen an der Wolga ihr Deutschtum um so stärker in den Familien und Kirchen pflegten. Die mennonitischen Gemeinden auf der "Wiesenseite" hatten daran besonderen Anteil. Hier besuchten alle Bewohner regelmäßig, ja streng, die Gottesdienste und verweigerten den Waffendienst. Das gleiche galt für eine Herrenhuter-Siedlung namens Sarepta, die schon seit Ende des 18. Jahrhunderts zu den vorbildlichsten an der Wolga zählte. Bei den einfachen Russen genossen die deutschen Siedler wegen ihres Fleißes, ihrer Sauberkeit und Pflichterfüllung - nicht zuletzt auch wegen ihres Abstandes vom Alkohol - eine hohe Achtung. Ihre Häuser und Gärten waren vorbildlich gepflegt.

Rückwanderer nach Deutschland gab es nur wenige. Der kulturelle Unterschied war bereits zu groß geworden. Wer auf Grund der Russifizierungsbestrebungen das Wolga-Gebiet verließ, wanderte zumeist über die Häfen Hamburg oder Bremen nach Amerika aus. Ab 1905 versuchten deutsche baltische Großgrundbesitzer Rückwanderer in Kurland, Livland und Estland zu halten und organisierten für sie die Entwicklung deutscher Siedlungen. Bestrebungen, die bedrängten Wolga-Deutschen insgesamt ins Baltikum zu holen, wurden mit Beginn des Ersten Weltkrieges jäh unterbrochen und nie wieder aufgenommen.

Ein Manifest des russischen Zaren Alexander I. lockte 1804 wie-derum deutsche Siedler nach Rußland. In zwei Kriegen gegen das Osmanische Reich hatten sowohl Katharina II. als auch Alexander I. die Gebiete des heutigen südlichen Rußlands wieder dem eigenen Staatsgebiet einverleibt. Jetzt wollte er diese Region durch die Ansiedlung von Deutschen zur Blüte bringen. Auch er versprach neben freiem, urbar zu machenden Land Befreiung vom Militärdienst, Steuerfreiheit, Religionsfreiheit und zahlte Kosten für die Übersiedlung nach Rußland.

Außer einigen deutschen Mennoniten, die schon in der Zeit Katharinas ins Schwarzmeergebiet (Gouvernement Jekaterinoslaw) gezo- gen waren, wohnten hier noch keine deutschen Einwanderer. Zwischen 1804 und 1820 zogen deutsche Trecks auf dem Landweg über Polen und Österreich ins Schwarzmeergebiet. In den beiden folgenden Jahrzehnten noch einmal größere Schübe! 1859 kam der letzte deutsche Treck in seiner Bestimmungsregion an. Insgesamt entstanden 209 Siedlungen mit etwa 126.000 Deutschen. Bis nach dem Ersten Weltkrieg zeugten Siedlungsnamen wie Darmstadt, Straßburg, Karlsruhe, Durlach, Mannheim von den Herkunftsregionen der Kolonisten. Auch im Schwarzmeergebiet lebten sie neben anderen Völkerschaften - hier waren das Russen, Kosaken, Griechen und Rumänen.

Der Boden hier war ebenso fruchtbar wie im Wolga-Gebiet, so daß die Deutschen mit dem wirtschaftlichen Erfolg schnell heimisch wurden. Gewählte Schultzen (Bürgermeister) waren die Dorfoberhäupter. Mehrere Gemeinden waren nach deutschem Vorbild zu Kreisen zusammengeschlossen, die von "Oberschultzen" geleitet wurden. Das Land war Gemeindebesitz und wurde den Siedlern - im Gegensatz zum Wolgagebiet - "zum ewig erb-lichen Besitz" zugewiesen. Vollständig persönlicher Besitz waren die Gebäude, die die Siedler darauf errichteten. Die Durchschnittsgröße des jeweiligen Hofbesitzes lag bei 50 bis 60 Deßjatinen (eine Deßjatine gleich 1,0925 Hektar). Im Rahmen einer Familie durften die Höfe höchstens zweimal geteilt werden, was zur Folge hatte, daß der reichlich vorhandene männliche Nachwuchs im Osten, Norden und auf der Krim neue deutsche Dörfer baute. So wuchsen aus dem Gouvernement Jekaterinoslaw als Basis immer weitere Siedlungen. Ein Teil der Auswanderer von dort zog sogar in Richtung Kaukasus und Sibirien.

Im Jahre 1914 gab es in dieser Hauptsiedlungsregion 1.077 deutsche Siedlungen, zumeist rund um das Schwarze Meer, aber auch am Asowschen Meer. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts führten die Deutschen über die Schwarzmeerhäfen Mais, Kartoffeln, Tomaten, Melonen und Bohnen aus. Daneben entstand auch hier ein von Generation zu Generation immer mehr blühendes Handwerk.

Plötzlicher Zwang zur Integration

Während die ersten beiden Siedlergenerationen sich in erster Linie um die Grundbedürfnisse kümmern mußten - Wohnung, Nahrung, Kleidung -, hatte die dritte bereits einen Wohlstand erarbeitet, der ein, wenn auch bescheidenes, kulturelles Leben ermöglichte. Auch hier war die Kirche der Träger der ersten Schulen. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es bereits 22 "Zentralschulen", in denen der Lehrernachwuchs ausgebildet wurde. Vier Jahre währte die Ausbildungszeit, und das Ergebnis konnte sich sehen lassen.

Während das wirtschaftliche Leben erblühte, hatten die deutschen Siedler auch hier viele Probleme mit der russischen Regierung. Die einst feierlich garantierten Rechte, mit denen Alexander I. die Deutschen ins Land geholt hatte, wurden 1871, ohne mit den Betroffenen gesprochen zu haben, einfach aufgehoben. Die Deutschen wurden jetzt zum Militärdienst eingezogen. Die Kinder mußten die öffentlichen russischen Schulen besuchen. Da ein deutscher Lehrernachwuchs aber vorhanden war, spielte Deutsch als Fremdsprache an den Schulen eine wesentliche Rolle.

Katharina II.: Die russische Zarin holte 1763 Tausende von Deutschen nach Rußland. Diese siedelten hauptsächlich an der unteren Wolga und schufen dort blühende Dörfer, die die Anerkennung, aber auch den Neid der Einheimischen weckten. Foto: Archiv