23.04.2024

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16.08.03 / Der alte Mann am Brunnenrand

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 16. August 2003


Der alte Mann am Brunnenrand
von Gabriele Lins

Die Bänke rund um den Brunnen waren leer. Es war später Nachmittag, die Sonne malte zitternde Spiralen auf die Blätter der Bäume und den gepflegten Rasen. Der bronzene Frosch saß mitten im Wasser auf seinem Seerosenblatt und spritzte der zierlichen Prinzessinnenfigur einen silbernen Strahl aus seinem Maul entgegen. Die Prinzessin lachte und hielt ihre goldene Kugel in die Höhe, wie um sich vor ihm zu schützen.

Die Uhr am nahen Kirchturm schlug fünf, und in diesem Augenblick setzte sich ein alter Mann auf den schmalen Brunnenrand. Er zog einen Becher aus seinem abgewetzten Beutel, hielt ihn unter die Wasserfontäne, ließ ihn voll laufen und trank ihn in einem Zug leer. Dann nahm er einen rotbackigen Apfel aus seinem Beutel und biß herzhaft hinein. Es schien ihm zu schmecken, denn er schmatzte und sah dabei sehr zufrieden aus. Danach packte er seine Utensilien wieder ein, klaubte sich Kiesel vom Weg und warf sie nacheinander gezielt durch den Wasserstrahl. Dabei stieß er ein meckerndes Lachen aus.

Schon seit ein paar Minuten hatte der Mann eine Zuschauerin. Sie saß auf einer Bank am Brunnen und sah aus, als warte sie auf jemanden. Doch nun konnte sie die Augen nicht mehr von dem Treiben des Mannes abwenden. Sein kindliches Vergnügen steckte sie an, sie mußte lachen, und plötzlich tat sie es ihm nach, nahm sich eine Hand voll weißer Kiesel vom Weg und warf diese nach und nach von der anderen Seite durch den Wasserstrahl. Die beiden so verschiedenen Menschen, der alte Mann in seinem abgetragenen Anzug und die junge Frau in ihrem hellen Sommerkleid lachten unbe- schwert wie Kinder beim Spiel.

Nach einer Weile erhob er sich, deutete eine Verbeugung an und ging langsam davon. Wie zufrieden er ausgesehen hat, dachte die Frau und seufzte laut, er kennt bestimmt keine andere Sorge als die, wie er an eine Flache Bier oder Rotwein kommt. Stadtstreicher müßte man sein.

Der Schatten der Brunnenfigur rückte langsam weiter gegen den Kirchturm hin. Die Zeit verstrich. Auf der Uhr am Turm war es jetzt Punkt sechs. Die Frau wartete immer noch, aber ihr Freund kam nicht mehr. Er würde auch morgen nicht kommen und nicht übermorgen, er würde sich nie mehr mit ihr treffen, das wußte sie jetzt mit aller Klarheit; die Zeit der Freude war vorbei, und sie hatte keinen Frosch, der zum Prinzen wurde, wenn man ihn an die Wand warf.

Als sie gehen wollte, sah sie den Mann von vorhin aus der Innenstadt zurückkommen. Wieder setzte er sich auf den Brunnenrand, wickelte ein Stück Pizza aus fettigem Papier und biß herzhaft hinein. "Schmeckt gut", rief er ihr zu und lachte über das ganze Gesicht, "hab ich gerade aus der Pizzeria Adamo abgestaubt für ganz umsonst." Ein paar Champignons hingen in seinem graumelierten Bart und von seiner spitzen Nase tropfte ein winziger Klecks Tomatensoße. Ein letzter Strahl der Abendsonne tauchte seinen Kopf, der so hölzern aussah wie der einer Marionette, in warmes Licht.

Das Malerauge der jungen Frau sog das Bild ein: die steinernen Märchenfiguren, die silberne Wasserfontäne und den alten Mann am Brunnenrand, wie er selbstvergessen seine Pizza aß, und ihr Gemüt hellte sich auf. Ich werde ein Bild malen, wie ich es noch nie geschaffen habe, dachte sie glücklich, und ich werde es "Zufriedenheit" nennen. Sie nestelte in ihrer Tasche herum und legte dem Mann einen Schein in den Schoß. "Sie haben mir ein Geschenk gemacht", sagte sie und winkte ab, als er ihr das Geld wiedergeben wollte, "Sie haben mir gerade die Idee für ein Gemälde geliefert, und dies soll der Dank dafür sein."

Eigensinnig hielt ihr der Stadtstreicher den Schein entgegen. "Ich nehme nichts für Geschenke, die ich anderen mache, junge Frau", sagte er und sah dabei sehr ernst aus, "denn dann wäre es ja kein Geschenk mehr. Und das wirklich Schöne und Wichtige kann man ohnehin nicht mit Geld bezahlen." Er zog eine Bierflasche aus seiner Tragetüte, öffnete sie mit den Zähnen und nahm ein paar große Schlucke. Dann rülpste er laut und murmelte: "Nein, nein, nicht mit allem Geld der Welt ..." Beschämt nahm sie ihren Schein, steckte ihn achtlos in die Tasche und ging davon.

Die junge Frau hat das Bild eines zufriedenen alten Mannes mit Marionettenkopf, der am Brunnenrand sitzt und Pizza ißt, nicht malen können, und auch nicht den winzigen roten Soßenklecks auf seiner Nase oder die Champignons in seinem grauen Bart. Sie brachte es einfach nicht so hin, wie sie wollte. Lag es daran, daß ihr die Zufriedenheit fehlte?