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23.08.03 / Quadratisch, praktisch, rot - "Die Mundorgel" wird 50

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 23. August 2003


Bolle hat sich dennoch amüsiert
Quadratisch, praktisch, rot - "Die Mundorgel" wird 50 
von Ralf Küttelwesch

D er Schlagersänger und "Grand Prix de Eurovision"-Teilnehmer Guildo Horn sitzt mit seiner Fan-Gemeinde am Lagerfeuer und trällert "den Bolle", sein Lieblingslied aus der "Mundorgel" (Lied Nr. 250). "Und jetzt alle!?" - Nein, nein, längst nicht mehr alle besitzen das kleine rote Liederheftchen. Eine Studie belegt, daß Anfang der 70er Jahre noch jeder zweite Jugendliche im Alter zwischen zehn und 15 Jahren eine Mundorgel sein eigen nennen konnte. Mitte der 90er Jahre war es nur noch jeder sechste in diesem Alter. Guildo Horn gehört zu der ersten Gruppe und behauptet in einem Interview, daß er sie getreu dem Pfadfindermotto "Allzeit bereit" ständig bei sich trage.

Szenenwechsel: Das romantische Nistertal im Westerwald 1953, Zelt an Zelt steht auf dem Sommerlager des Kölner CVJM, dem Christlichen Verein Junger Männer. Die "Pimpfe" schlafen noch, als sich ein Bote auf dem Fahrrad dem Lager nähert. Es ist der Drucker mit der ersten Auflage des Liederbuches. Die Textsammlung wird dringend benötigt.

Dieter Corbach und zwei andere damalige Studenten waren es leid, daß in ihren Jugendgruppen der Gesang nach der ersten Strophe eines Liedes verstummte. Als Gedächtnisstütze mußte eine Textsammlung her. Zu Ehren ihres Führers Mundt nannten sie das Liederbuch "Die Mundorgel". Nach dem Vorbild eines christlichen Gesangbuches und so klein, daß sie in die Brusttasche des Fahrtenhemdes paßt, soll das kleine rote Heftchen die Singrunden bereichern.

Als 1953 im Westerwald die Sonne aufgeht, beginnt zugleich der kometenhafte Aufstieg eines der bekanntesten Liederbücher in deut- scher Sprache. 1975 stand es, so klein, wie es war, auf Platz fünf der Jahresbestsellerliste, vor Solschenizyns "Gulag" und vor den Werken des Vielschreibers Simmel.

Die Liedauswahl ist bunt gemischt. Christliche Lieder bilden den Grundstock, Fahrten- und Volkslieder ergänzen die Sammlung. Sind es in der Erstauflage 132 Lieder, so steigt die Zahl in der zuletzt überarbeiteten Fassung auf 278. Geordnet in die Kategorien Morgen- und Abendlieder, Spirituals und geistliche Lieder, Volks- und Wanderlieder, Folklore sowie Spiel- und Ulklieder, finden sich 109 als ökumenische, 50 als politische und 34 als Scherzlieder bezeichnete Texte. Die Rubrik Seemannslieder fehlt ganz.

Die geistlichen Texte belegen in der Auflage von 1968 etwa ein Drittel der Gesamtzahl, während sie in der Neuauflage schon fast die Hälfte der Sammlung stellen. Aber nicht nur die Zahl der Lieder veränderte sich, auch die Auswahl. So fehlt in der Neuausgabe das Lied "Es stürmten die Glocken vom Bernwartsturm", ein blutrünstiger Text von Borries von Münchhausen. Das Ostafrikalied "Heia Safari" von Anton Aschenborn fehlt in der 2001er Ausgabe wohl wegen des unkorrekten "Negerpfad" in der ersten Zeile.

Einige Texte aus der Ausgabe von 1968 fehlen in der zuletzt herausgegebenen Fassung anscheinend we-gen ihrer Beliebtheit in der Hitlerjugend und im Bund Deutscher Mädel, so zum Beispiel das Lied "Wildgänse" von Walter Flex, die "Blauen Dragoner", "Der mächtigste König im Luftrevier" und andere. Der Zensur entgangen ist allerdings das für die Hitlerjugend 1943 geschriebene Lied "Wer nur den lieben langen Tag", das in beiden Ausgaben steht.

Die Liedtexte der Neuausgabe tragen ansonsten dem Zeitgeist Rechnung und sind politisch korrekt. So fehlt in dem Lied "Hohe Tannen" zum Beispiel die letzte Strophe, in der es heißt: "... Volk und Heimat, die sind nicht mehr frei ..."

Das Lied ist 1923 in schlesischen Pfadfindergruppen entstanden und verarbeitet den Volkstumskampf der Freikorps gegen die polnischen Insurgenten. Auch in dem Lied "Wir sind durch Deutschland gefahren" fehlt die letzte Strophe "Wir werden noch weiter fahren, um deutsche Lande zu seh'n", ein Hinweis auf die Grenzziehung nach 1945.

Das "Deutschlandlied" ist nur mit der dritten Strophe abgedruckt, immerhin, denn in den früheren Ausgaben fehlt selbst diese. Hoffmann von Fallersleben und sein Lied waren für die Sammlung zu deutsch. Am deutlichsten aber wird die Manipulation bei einem Lied, für das der Herausgeber selbst als Textautor angegeben wird. In diesem Lied, "Dort drunt im schönen Ungarland", heißt es, "Tokajer, du bist mild und gut, du gibst ihm Schwung und frohen Mut ...", statt wie in der Ausgabe von 1968 "... du bist das reinste Türkenblut ...". Diese Textzeile hätte unsere türkischen Mitbürger empfindlich treffen können, obwohl sie, wie das ganze Lied, auf die Türkenkriege gemünzt ist und somit historisierend zu verstehen ist.

Nicht nur politische Vorbehalte sind verarbeitet worden, sondern auch die Furcht vor Verherrlichung des Alkohols. In dem Lied "Zelte sah ich, Pferde, Fahnen" stillt die Nachtwache ihr Leid nicht im roten Wein, sondern sieht den Tag im "Frührotschein" erwachen. Wieder erwachen sollte auch die Sangeslust der deutschen Jugend, damit ein Liederbuch wie dieses dennoch auch Bolle wieder ganz köstlich amüsiert.

Ob aber in einer Gesellschaft, in der auch Gesang hedonistisch konsumiert und Lieder nur noch als "Konserve" in Form von Lichtscheiben oder Kassetten bekannt sind, einem fast archaisch anmutendes Fahrtenleben mit Strapazen, Lagerfeuer, Kameradschaft und gemeinsamem Singen ein Wiederaufblühen beschieden ist, darf bezweifelt werden. Sollte es wider Erwarten aber so sein, sind veränderte Liedauswahl, gekürzte oder umgeschriebene Texte vorerst nicht so wichtig - Hauptsache, es wird dann wieder fleißig gesungen!

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