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30.08.03 / Ein Teil der Prussia-Sammlung wurde schließlich nach Berlin gerettet 

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 30. August 2003


Auf dem Müll gelandet
Ein Teil der Prussia-Sammlung wurde schließlich nach Berlin gerettet 
von Michael Malliaris

Schon 1811 wurde in Königsberg eine "Sammlung vaterländischer Altertümer beim königlichen Staatsarchiv" eingerichtet. Damit war die erste archäologische Sammlung Ostpreußens im Besitz der öffentlichen Hand gegrün- det worden. Im Jahre 1844 wurde auf Betreiben des Kunsthisto- rikers und Professors der Königsberger Albertus-Universität August von Hagen die Prussia-Altertumsgesellschaft gegründet. Der von kunst- und geschichtsbewußten Bürgern getragene Verein verfolgte das Ziel der "Aufsuchung und Erhaltung der preußischen Altertümer und Kunstwerke jeder Art". Daraus erwuchs eine zunächst private, ständig wachsende archäologische Sammlung mit dazugehörigem Fundarchiv. Die Ergebnisse der umfangreichen Ausgrabungs- und Sammlungstätigkeit wurden ab 1878 in einem selbständigen Organ - den Sitzungsberichten - veröffentlicht.

Schwerpunkte der archäologischen Sammlung waren die Funde der Bronzezeit (2. bis 1. Jahrtausend v. Chr.), der kaiserzeitlichen Gräberfelder (1. bis 4. Jahrhundert n. Chr.) sowie völkerwanderungszeitliche und mittelalterliche Funde (6. Jahrhundert bis 15. Jahrhundert n. Chr.). Auch jungsteinzeitliche Objekte wie etwa Bernsteinschmuck fehlten nicht (4. bis 3. Jahrtausend v. Chr.). Neben der archäologischen Sammlung beherbergte das im Königsberger Schloß untergebrachte Museum außerdem eine heimatkundliche und völkerkundliche Abteilung sowie eine Waffensammlung.

In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das Prussia-Museum der preußischen Provinzialverwaltung unterstellt. Die archäo- logische Dauerausstellung und die Studiensammlung im Königsberger Prussia-Museum galten bis zu ihrer kriegsbedingten Verlagerung im Jahre 1944/45 als eine Kollektion von europäischem Rang. Die Sammlung, die in den Nachkriegsjahren verschollen oder nicht mehr zugänglich war, geriet in der Fachwelt in Vergessenheit. Was war aus den Schätzen des Prussia-Museums geworden?

Ein Schreiben des für die Sammlung des Prussia-Museums zuständigen Direktors des "Landesamtes für Vorgeschichte" in Königsberg, Prof. Wolfgang La Baume, vom 23. März 1945 an den Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte Berlin, Prof. Wilhelm Unverzagt, unterrichtet uns über die Aufbewahrungsorte der seit 1944 ausgelagerten Sammlungsteile. Ein großer Teil der Studiensammlung und des Fundarchivs gelangte zunächst nach Carlshof, Kreis Rastenburg, von wo aus zwei Waggonladungen weiter nach Vorpommern transportiert wurden. Die Ladung eines Waggons, in dem sich "das gesamte Fundarchiv, die Ausgrabungspläne, die Negativsammlung u. a. m." befanden, erreichte das bei Demmin in Vorpommern gelegene Gutshaus Broock, das Flüchtlingen als vorübergehende Bleibe diente. Ein kleinerer Teil der Studiensammlung und eine Auswahl der Schausammlung (Bronzen der Bronzezeit und die meisten Gold- und Silberschmucksachen) wurden in Holzkisten in das Fort Quednau nördlich von Königsberg geschafft.

Im April 1946 erfuhr der Kaufmann Lothar Diemer, "daß im Gutsdorf Broock Kinder mit Steinbeilen auf der Straße spielen". Ihm verdanken wir einen Bericht über den fürchterlichen Zustand der Sammlung: "In einem Raum des Schlosses fand ich Teile der Prussia-Sammlung in unglaublich verwahrlostem Zustand, jedem Zugriff preisgegeben, den Kindern willkommener Spielplatz, den Siedlern Fundgrube für Kisten, Pappe, Glas, Papier, dem Verwalter ein Ärgernis. Der größte Teil lag in einem Raum des 1. Stock-

werks, der vollkommen beschüttet war mit Papier, Pappen, Kartons, Bronzestücken, Glasscherben, Eisenteilen, Perlen, Küchenabfällen, Holzsplittern, kurz, den Anblick eines Müllhaufens bot." 100 Jahre deutscher archäologischer Forschung und geschichtliche Zeugnisse aus Jahrtausenden waren buchstäblich auf dem Müll gelandet.

Kaufmann Diemer veranlaßte trotzdem die Bergung der Sammlung. Die Wochenendaktion bestand im Wesentlichen darin, das völlig verwahrloste Museumsgut in Kisten zu schaufeln. Im August 1949 wurden 125 Holzkisten in das Institut für Vor- und Frühgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin (Ost) überführt. Über ihre Existenz wurde Stillschweigen vereinbart, nicht zuletzt aus politischen Gründen. Erst 1990, nach dem Fall der Mauer, gelangte die Prussia-Sammlung langsam wieder an das Licht der Öffentlichkeit.

Im Museum für Vor- und Frühgeschichte in Berlin-Charlottenburg wurden am 26. April 1990 120 Holzkisten sowie am 7. August desselben Jahres weitere vier Holzkisten und ein großer Pappkarton eingelagert. Kistenböden und -wände waren zum Teil so stark lädiert, daß sie sich während des Transportes ohne weiteres Zutun lösten und die enthaltenen Gegenstände freigaben. In 96 Kisten befanden sich Artefak- te aus Eisen, Bronze und Stein, in 23 Kisten archivisches Schriftgut, in zwei Kisten fotografische Glas- negative und in drei Kisten sogenannter Kulturschutt, also ein Gemisch kleinster Bruchstücke und Fetzen, die zusammengekehrt worden waren.

Die Archivalien hatten in der langen Zeit zwischen 1945 und 1990 besonders gelitten. Viele tausend Blätter waren in Stücke zerrissen, Tausende weitere zerknüllt. Von mutmaßlich weit über 3.000 festen Akteneinbänden ließen sich 1990 noch ganze zwei auffinden. Der von Diemer ferner geäußerte Verdacht, ein Teil der Akten sei in Broock "zum Feueranmachen in der Küche" verwandt worden, ist mehr als wahrscheinlich.

Für das im Juni 2000 begonnene Erschließungsprojekt des Prussia-Schriftguts im Archiv des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte konnte vorausgesetzt werden, daß zwei aufeinanderliegende Blätter in keinerlei Bezug zueinander standen. Ziel war die Neubildung von Akteneinheiten. Es galt, zirka 50.000 lose und fragmentarische Blätter von Briefen, Berichten, Skizzen, Protokollen, Notizen, Tagebüchern, Plänen, Zeichnungen, Fotografien, Karteikarten, Fundetiketten etc. vollständig neu zu er-

schließen. Jedes einzelne der Blätter mußte ergänzt, wenn möglich einem Fundort zugewiesen, in eine Reihenfolge gebracht und in einer Datenbank verzeichnet werden.

Neben mehr als 2.000 ostpreußischen Fundorten enthält das datenbankgestützte Fundortverzeichnis des Prussia-Fundarchivs inzwischen über 900 Verweise. Die im Ber- liner Archiv identifizierten Fund- orte können auf der Internet-Seite www.prussia-museum.de abgefragt werden, die fortlaufend über die aktuellen Projekte des Prussia-Teams im Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte berichtet. Der Bestand des neu geordneten Prussia-Fundarchivs setzt sich im wesentlichen aus Ortsakten, das heißt Akteneinheiten zu einem Fundort, Fotonegativen, Fotoabzügen, topographischen Karten und Plänen sowie Gelehrtennachlässen zusammen. Grabungsberichte, Fotografien und Zeichnungen von Ausgrabungen und Funden lassen sich in fast jeder Akteneinheit finden.

Zwei Jahre nach Aufnahme der Archivarbeiten wurde die Neustrukturierung und Ordnung des Bestandes im Sommer 2002 weitgehend abgeschlossen. 59 Jahre nach der Evakuierung aus Königsberg ist das Prussia-Fundarchiv im Herbst 2002 wieder öffentlich zugänglich und nutzbar.

Ein Teil der Königsberger Burgwallakten, die als Sondergruppe im Archiv Unterlagen zu den vor- und frühgeschichtlichen Wall- und Wehranlagen Ostpreußens enthielten, ist als wertvollste Wiederentdeckung im Bestand des Prussia-Fundarchivs zu sehen: die soge-

nannten Guise-Zettel. Die zwischen 1826 und 1828 entstandenen Guise-Zettel sind die ältesten erhaltenen Archivalien des Prussia-Fundarchivs. Von den ursprünglich ungefähr 600, meist doppelseitig mit Bleistift oder Tusche beschriebenen, in der Regel neun mal elf Zentimetern messenden Zetteln im Fundarchiv des Prussia-Museums haben sich 293 Stück im Archiv des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte erhalten. Weitere 120 Guise-Zettel, die im Potsdamer Hee- resarchiv lagen, wurden 1945 durch Brand vernichtet.

Der preußische Leutnant Johann Michael Guise fertigte sie während zweier Reisen durch Ost- und Westpreußen im Auftrag der preußischen Militärbehörden an. Die Initiatoren des Unternehmens waren jedoch der preußische Oberpräsident Theodor von Schön (1773-1856) und der Historiker und Leiter des Königsberger Staatsarchivs Johannes Voigt (1786-1863). Die erste Reise vom 14. September 1826 bis zum 30. Mai 1827 führte Guise von Königsberg nach Thorn und zurück. Stationen seiner zweiten Reise vom 6. Juli 1827 bis zum 1. Februar 1828 waren Königsberg, Lyck, Memel, Wehlau und wieder Königsberg. 60 Prozent der erhaltenen Zettel weisen Grundrisse und Ansichten von "heidnischen" Wehranlagen und Ordensburgen auf, die übrigen Skizzen bestehen aus Stadtgrundrissen und -ansichten, Kirchenansichten, Architekturdetails etc. Gegenstand seiner Zeichnungen in sehr unterschiedlicher Qualität waren bedeutende Monumente wie die Marienburg oder der Frauenburger Dom, in gleichem Maße aber auch auf den ersten Blick unscheinbare "Heidenschanzen", Dorfkirchen und Dorfansichten.

Die Zeichnungen Johann Michael Guises sind ohne weiteres als ein erster Schritt zur systematischen Aufnahme von vor- und frühgeschichtlichen wie auch mittelalterlichen und neuzeitlichen Bau- und Kunstdenkmälern in Ostpreußen anzusehen. Aus den erhaltenen Schriftstücken des Prussia-Fundarchivs ist ersichtlich, daß die Guise-Zettel als zuverlässige Quelle angesehen und für die Burgwallforschung verwendet wurden.

Der katastrophale Zustand der nach Berlin gelangten Fundobjekte, die zur ehemaligen Studiensammlung zählten, entsprach demjenigen der Archivalien. Es handelt sich um rund 40.000 Objekte aus Eisen, Bronze, Silber, Stein, Glas, Textil und Leder. Die ursprüngliche Ordnung des Materials ist ebenfalls fast völlig verlorengegangen. Ein Großteil der Stücke war ursprünglich auf Pappen befestigt, die mit Fundort und Inventarnummer beschriftet waren. Zahlreiche Objekte haben sich jedoch gelöst und können gegenwärtig keinem Fundort zugewiesen werden. Seit 1993 wird der erhaltene Bestand im Rahmen mehrerer Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen katalogisiert. Bedauerlich ist das Fehlen bronze- (2. Jahrtausend v. Chr. bis 7. Jahrhundert v. Chr.) und hallstattzeitlicher (7. bis 5. Jahrhundert v. Chr.) Stücke sowie der gesamten Schausammlung. Das in Berlin aufbewahrte Material stellt bislang den größten erhaltenen Teil der Prussia-Samm- lung dar. Einige der in Quednau verbliebenen Bestände sind in den vergangenen drei Jahren in den Kasematten der Festung freigelegt worden und haben für ein großes Presseecho gesorgt. Die Zeit-Stiftung in Hamburg unterstützt die russischen Archäologen bei der Bergung und Restaurierung der dortigen Funde, die teilweise auch in einer Ausstellung präsentiert worden sind.

Im Gegensatz zu den jüngst in Königsberg geborgenen Gegenständen läßt sich ein Großteil der Berliner Objekte mit Hilfe der schriftlichen Unterlagen genau identifizieren und einem Fundort sowie Fundkontext zuordnen. Damit werden alte und zum Teil unpublizierte Ausgrabungen in Ostpreußen rekonstruierbar und können endlich in die aktuelle Forschung einfließen. Zahlreiche Anfragen und Studienaufenthalte von Archäologen aus den Republiken Litauen und Polen sowie der Russischen Föderation belegen den hohen Stellenwert des neu erschlossenen Berliner Materials. Die Prussia-Sammlung im Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte ist schon jetzt als Kristallisationspunkt einer erfolgreichen internationalen Zusammenarbeit deutscher, litauischer, polnischer und russischer Archäologen anzusehen.

Vieles bleibt noch zu tun. Die vollständige Aufarbeitung der Unterlagen und Objekte wird sich noch über mehrere Jahre hinziehen. Die Finanzierung weiterer Erschlie-ßungsprojekte ist allerdings zur Zeit ganz ungewiß. Unverdrossen wird jegliche Information zum Prussia-Museum im Archiv des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte gesammelt. In diesem Sinne ist auch die 1972 in Duisburg wiedergegründete Prussia-Gesellschaft tätig. Besonders wertvoll erweist sich die Mithilfe ehemaliger Mitarbeiter des Prussia-Museums: Der von 1929 bis 1934 am Prussia-Museum tätige Zeichner Kurt Jaensch und die von 1929 bis 1931 beim Museum als Assistentin des Direktors beschäftigte Barbara Kadgien, geb. von Freytag, genannt Loringhoven, die das Archiv in Berlin im letzten April besuchte, konnten dem Prussia-Team mit wertvollen Informationen helfen.

Teile der Prussia-Sammlung sind wohl unwiederbringlich verloren. Andere harren vielleicht noch ihrer Entdeckung. Die in Berlin erhaltenen Schätze des ehemaligen Königsberger Prussia-Museums erscheinen nun wieder als Kollektion von europäischem Rang in hellem Licht. n

Der Autor ist Mitarbeiter des Museums für Vor- und Frühgeschichte Berlin, Spandauer Damm 19, 14059 Berlin-Charlottenburg, und für Hinweise und Informationen jeder Art über das Prussia-Museum dankbar.

Die Aufarbeitung wird noch Jahre dauern Akten wurden zum Feuermachen verwandt

Langhansbau des Schlosses Charlottenburg: Der Bau ist seit 1960 Ausstellungs- und Depotgebäude für das Museum für Vor- und Frühgeschichte. Hier wurden 1990 insgesamt 124 Holzkisten und ein großer Pappkarton mit dem 1949 nach Berlin gelangten Teil der Prussia-Sammlung eingelagert

Foto: Museum für Vor- und Frühgeschichte, Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz