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20.09.03 / Lebensmittelrecht: Probleme mit Piroggen / Die EU und der Schutz traditioneller Spezialitäten

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 20. September 2003


Lebensmittelrecht: Probleme mit Piroggen
Die EU und der Schutz traditioneller Spezialitäten
von Dietmar Stutzer

Der Oberpräsident der Provinz Preußen, Theodor von Schön, bemerkte im fortgeschrittenen Alter: "Ich bin durch mehr als 40 Jahre preußischer Beamter gewesen, aber die Kantische Philosophie und die Sauerkrautsuppe haben mir das Leben erhalten."

Nicht gesagt hat er, ob es die Suppe aus ostpreußischem oder litauischem Sauerkraut war, der er seine Zähigkeit verdankte. Vermutlich war ihm kein Unterschied bewußt. Doch wenn es damals die Europäische Union schon gegeben hätte, dann hätte er sozusagen dem Tenor europäischen Rechts widersprochen, genauer: gegen die Verordnungen EWG kom. 2081+2082/92 über den "Schutz geographischer Ursprungsbezeichnungen für Agrarprodukte und Lebensmittel" vom 14. Juli 1992 verstoßen.

Kaum eine andere EU-Regelung im Lebensmittelrecht ist so umstritten wie diese beiden Verordnungen. Obendrein wird die andauernde Diskussion um die Anwendung und vor allem die Anwendbarkeit mit dem Beitritt der ostmitteleuropäischen Länder am 1. Mai 2004 zusätzlich angefacht.

Denn gerade für die Agrar- und Ernährungskulturen der künftigen Mitgliedsländer hat dieses Schutzsystem große Bedeutung und findet in der Bevölkerung breite Aufmerksamkeit.

Das zeigte sich auch Anfang September auf einem Fachkongreß im oberösterreichischen Ried mit dem Titel "Nahrungsmittelqualität in Europa - Herausforderungen vor der Osterweiterung". Von den 150 Teilnehmern kam die Hälfte aus den Beitrittsländern sowie aus Bulgarien, Moldawien, Rumänien und der Türkei.

Die baltischen Staaten, Tschechien mit seinen berühmten Bieren, Ungarn sowieso, aber zum Beispiel auch Moldawien kennen eine im Westen des Kontinents kaum bekannte Fülle an regionalen und lokalen Lebensmittelspezialitäten. Im Baltikum, in Polen und teilweise in Ungarn spielen dabei kulinarische Adelstraditionen eine nicht unerhebliche Rolle.

In den Jahrzehnten der kommunistischen Zwangsherrschaft wurden zwar etliche dieser Traditionen verschüttet, aber es blieb noch sehr viel übrig bzw. konnte wiederbelebt werden. Das Interesse an einem wirksamen Schutz der Ursprungsbezeichnungen ist nicht zuletzt deshalb stark, um darauf Verkaufsstrategien für den harten Konkurrenzkampf im erweiterten EU-Markt aufbauen zu können.

Der Brüsseler Entwurf von 1992 unterscheidet zwei Arten von Bezeichnungen: die "geschützte geographische Angabe" (g. g. A.) und die "geschützte Ursprungsbeschreibung" (g. U)".

Erstere benennt den Namen einer Regi­on, eines Ortes oder auch eines Lan­des, der dazu dient, landwirtschaftli­che Erzeugnisse oder Lebensmittel zu bezeichnen, die dort herge­stellt werden und deren Eigenschaf­ten oder ihr besonderer Ruf von den jeweiligen landschaftlichen Eigenarten abhängen. Dazu gehören naturräumliche ebenso wie kulturelle Einflüsse. Als Beispiel wurde damals ausdrücklich der "Schwarzwälder Schinken" genannt. Zur geschützten Ursprungsbeschreibung hieß es: Diese "ist der Name der Region, eines bestimm­ten Ortes und in Ausnahmefällen ei­nes Landes, der dazu dient, ein in die­sem geographischen Gebiet herge­stelltes landwirtschaftliches Erzeugnis oder Lebensmittel zu bezeichnen".

Alle ostmitteleuropäischen Länder kennen eine Fülle geographischer Herkunftsbezeichnungen für Lebensmittelspezialitäten, definieren diese aber mindestens ebenso oft national wie regional oder lokal.

Als Beispiele seien die "Kolduny litva" erwähnt, gleichsam die litauischen Tortellini, sowie die "Pierogi" (Piroggen), die mit Fleisch, Käse, Waldfrüchten und Gemüse gefüllt sein können. Es gibt sie als "Polnische Pierogi", als litauische und als russische. Angeboten werden sie nebeneinander, aber jeder Käufer weiß, daß er eine Spezialität wählt, wenn er sich für eine Ursprungsbezeichnung entscheidet. Hier vermischen sich also geographisch-nationale Herkunftsbezeichnung und Gattungsbegriff.

Bei den polnischen Fleischwaren findet man eine ähnlich bunte Spezialitätenvielfalt wie in Deutschland oder Italien. Manche Polen fragen sich, wie es sein wird, wenn es am Würstelstand in München oder Passau "Brühpolnische" und "Krakauer" zweimal gibt: einmal solche, die vor Ort und dann solche, die wirklich in Polen hergestellt wurden. Zugleich kennt man auch in Polen die "ungarische Salami" sowie den "polnischen Schinken", der alle Eigenschaften hat, wie sie die EU-Kommission gemäß g. g. A.-Definition verlangt.

Mit diesem ist es wie mit dem "Prager Schinken", der nie nur in Prag hergestellt wurde, sondern dessen Name stellvertretend für die kulinarische Kultur aller Regionen der alten böhmischen Krone steht.

Kenner der staubtrockenen Brüsseler Kommissionsbürokratie können sich schadenfroh die Mühen ausmalen, die auf diese warten, wenn sie ihre Verordnungen beispielsweise auf den unvergleichlichen Spezialitäten-Flickenteppich in Schlesien anwenden muß.

Die schlesischen Spezialitäten bei den Wurstwaren sind die bekanntesten, aber beileibe nicht die einzigen. Geographische Ursprungsbezeichnungen mit einem Schlesienbezug gibt es für alle wichtigen Nahrungsmittel, von den Milchdauerprodukten bis zu Sauerkraut und Mineralwässern. Bisher hat die EU-Kommission 620 Lebensmitteln mit speziellem geographischen Ursprung den Schutz gemäß den Verordnungen von 1992 zuerkannt. Frankreich steht mit 132 Produkten an der Spitze, gefolgt von Italien mit 127, Portugal mit 86, Griechenland mit 83, Spanien mit 68 und Deutschland mit 64 (darunter zwölf Biersorten und 31 Mineralwässern).

In Deutschland sind die EU-Klassifizierungen deshalb besonders umstritten, weil dort die Ursprungsbezeichnungen zu einem großen Teil zu reinen Gattungsbezeichnungen geworden sind und Markencharakter erlangt haben (man denke an den "Harzer Käse", der allenfalls ausnahmsweise noch im Harz hergestellt wird).

Dieser Bedeutungswandel ist vor allem eine deutsche Eigenart, die in den romanischen Kulturen nur vereinzelt bekannt ist, jetzt aber um das den deutschen Traditionen vergleichbare kulinarische Erbe Ostmitteleuropas ergänzt wird. Damit muß man sich in Brüssel auseinandersetzen. Der interessanteste Fall und zugleich die "härteste Nuß" ist dabei sicherlich Tschechien.

In der Ausgabe 39 folgen exemplarische Ausführungen zu Tschechien.

Ostmitteleuropa: Kulinarischer Flickenteppich

Gegen die Globalisierung der Eßkulturen: Schwer anwendbare Schutzvorschriften der EU-Bürokratie
Bild: Archiv