27.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
04.10.03 / Verwandte dringend gesucht

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 04. Oktober 2003


Verwandte dringend gesucht
Von Eva Pultke-Sradnick

Hanni saß zusammengeringelt in der Sofaecke und ließ laut weinend ihrem Schmerz seinen Lauf. "Ei, mein kleines Schafche, mein Schieperche, was fehlt dir denn?" fragte die Mutter besorgt. "Bist hingefallen, tut dir was weh? Na, denn hast bestimmt Hunger, wart, ich mach dir ein Zuckerbrotche." Hanni gab keine Antwort, aber sie schraubte ihr Weinen noch um eine Oktave höher. "Oder haben dir die Jungens was getan, denn mußt sagen, denn kriegen sie orndlich was hinter die Ohren. Auch nicht? Na denn komm her, denn puusch ich dich ein Weilchen, und denn ist gleich besser." Die Mutter nahm ihre kleine Marjell in den Arm und wiegte sie leise summend hin und her.

"Ich möcht' auch Verwandte haben", brach es endlich aus Hanni heraus. "Ich möcht' auch Tanten und Onkels, Schwestern und Cousinchen. Alle haben sie welche, bloß ich nicht. Ich hab bloß immer Omas und Opas, und zwei sind schon ganz alt. Warum hab' ich nicht wie Traute und Ulla auch Schwestern und eine Tante Liese und Tante Lene, vielleicht auch eine Tante Herrmann oder Tante Emil." Ja, dachte die Mutter gedankenvoll, da müßte man eher die Omas fragen. Ich hätte auch ganz gerne Geschwister gehabt. "Ach mein kleines Mädchen", sagte sie tröstend, "alles kann man sich im Leben nicht aussuchen. Manche Menschen haben einen Haufen Kinder und andere müssen dankbar sein, wenn sie ein einziges bekommen. Du aber hast doch noch drei Brüder, du bist doch nicht allein."

"Aber das sind doch bloß Jungens", schniefte Hanni erbost. "Keiner will mit mir Puppenspielen und keiner will auf meinem Kochherd kochen. Sie kommen nur immer alles ausschmengern und sagen, daß ich eine kalte Mamsell bin, weil ich kein Feuer im Herd von dir krieg, wo du doch den ganzen Ofen und den Herd voll hast. Die spielen bloß immer Schlagball, Messerstechen, Klippche schlagen, gehen Stuckse fangen und sind frech." Es kostete die Mutter einige Mühe, alle Vorzüge, die ein kleines Mädchen hatte, aufzuzählen.

Sie mußte ihrer Tochter recht geben. Ja, es stimmte schon. Sie selbst war ein Einzelkind, und ihr Mann hatte auch nur eine Schwester, die allerdings vier Kinder hatte. Der Haken war nur, daß diese bereits um fast eine halbe Generation älter waren als Hanni. Fast jede zweite Familie im Dorf war kinderreich, und in der vorherigen Generation waren zehn bis zwölf und vierzehn Kinder gar keine Seltenheit. Und so gab es Tanten und Onkel, Großonkel, Cousinen und "kleine" Cousinen, dies waren wiederum die Kinder der vorher genann-ten. Die Schwippschwager und -schwägerinnen kamen auch noch dazu. Da war es gar nicht einfach, alle auseinander zu halten.

Wie zu allen Zeiten unterlag auch die Namensgebung einer gewissen Mode. Eleonora, Gerda, Waltraut, Margarethe, Editha, Werner, Gerhard, Alfons und Lothar waren in den Zwanzigern bevorzugt. Bei den Großeltern war es natürlich nicht viel anders. Da spielten Kaiser und Könige noch eine Rolle, und so lagen die Taufnamen Wilhelm, Karl und Karoline, Heinrich, Eduard, Eberhard oder Otto, Henrietta, Georgine, Rosalie, Wilhelmine und Auguste voll im Trend. Alles klangvolle Namen. Diese gab es dann allerdings mehrfach im Dorf, aber damit hatte niemand ein Problem. Spätestens jedoch, wenn die ersten Bräute oder Freier ins Haus kamen, dann gab es ein bißchen Kuddelmuddel. Denn es konnte durchaus sein, daß es in der Familie oder weiteren Verwandtschaft bereits eine Elisabeth, Lieselotte, Rosa oder Marie gab. Das regelte sich jedoch bald von ganz alleine. Da schrumpften die Doppelnamen zu Lilo und Lottchen, oder wenn eine gerne naschte, wurde sie schnell zur Schmengerlies'chen, eine andere zur Putzmarie. Eigenheiten, Wohnort, Berufe kamen da in Frage, und wenn es gar nicht anders war, hieß sie eben Tante Herrmann oder Tante Emil, nach dem Namen ihres Mannes. Nie gab es aber einen Onkel Minna oder Onkel Berta. Das hatte etwas mit der Mannesehre zu tun. Nein, so etwas wurde erst gar nicht in Erwägung gezogen. Schließlich war er das Oberhaupt der Familie, der Verdiener und Vater der Kinderschar.

Überhaupt, die vielen gleichen Familiennamen im Dorf! Schock, Spitz, Neumann, Baumeister, David, Wittke, Schöttke, da konnte der Postbote ein Lied von singen. Zur Unterscheidung gab es da aber die Okelnamen, die vorn oder hinten angehängt wurden. Das waren edle Namen wie Graf, Prinz, Leutnant, Päpke, Kohn, Kniebchen, Zacker, Mix, Max oder Lippke. Sogar doppelt gemoppelte Vor- und Nachnamen konnte es zwischen zwei Familien geben. Aber sie behaupteten, nicht miteinander verwandt zu sein. Sicher wird es aber in grauer Vorzeit einmal ein gemeinsames Nest gegeben haben.

Wie sehr beneidete Hanni dar-um ihre Schulfreundinnen. Traute hatte sogar einen Fleischer in der Familie. Er wurde Blücher genannt, vielleicht weil er so bräsig und forsch aussah. Ihn gingen die beiden immer gerne besuchen, wenn Tante Trude, seine Frau, nicht im Laden war, wohl wissend, daß sie bei ihm nie ohne eine dicke Scheibe Wurst hinausgingen. Eine andere Tante lud sie immer zum Hineinkommen und Sitzen ein, was sie mit ihren barften Füßen, an denen meistens noch Seesand klebte, der auf den blank gebohnerten Fußboden runterfiel, gar nicht so gerne taten. Aber hier gab es immer was zum Schmengern. Tante Marie hatte nämlich im Schrank eine goldblaue Keksdose, und die war stets gefüllt. Sie zögerte nie lange, holte zwei bunte Lack-tellerchen heraus und belegte sie mit köstlichem Gebäck. Dabei erzählte sie, wie jedes Mal, daß diese Teller von ihrem Großvater stammten, der sie von den Chinesen mitgebracht hatte. Er war, wie fast alle Fischer hier im Dorf, Seemann und auf großer Fahrt gewesen.

Bei Tante Rosa gab es meistens einen Apfel, weil die so gesund sein sollten. So machten die Kinder, wenn an einem Tag gar nichts los war, ihre Besuchstour, und Hanni beneidete ihre Freundin sehr. Ein ganz klein wenig fühlte sie sich aber doch mit allen verwandt, vor allem mit dem dicken Fleischer Blücher. Denn Hannis Tante Minna, Vaters Schwester, hatte nämlich den Onkel Gustav geheiratet, der ein Bruder von Fleischermeister Blüchers Frau war. Das wäre keineswegs verwandt, erklärten Hannis Brüder lachend, aber sie zog nur geringschätzig ihre dünnen Schultern hoch und ließ die dummen Jungens stehen, was wußten die denn schon von Püschologie?

Die Mutter nahm die Marjell in die Arme und puuschte sie Gerhard Hahn: Oberländisches Bauernhaus in Güldenboden, Kreis Mohrungen (Öl)