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04.10.03 / Preußen zog in der Stunde der Not als Hoffnungsträger der Nation die Besten des Landes an

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 04. Oktober 2003


Der Befehl des Gewissens
Preußen zog in der Stunde der Not als Hoffnungsträger der Nation die Besten des Landes an 
von Rüdiger Ruhnau

Am Anfang der preußischen Reformbewegung standen die militärische Niederlage und der sie besiegelnde, demütigende Tilsiter Friede. In den Tagen der Schmach fand der König die mannhaften Worte: "Der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat." Wohl erkannten auch die Österreicher, daß eine Wiederaufnahme des Kampfes gegen Napoleon nicht auf der Basis der alten Heeresstruktur erfolgen könne; das Volk als Ganzes müßte zu den Waffen greifen. Aber in Wien überwog dann doch die Furcht, die bewaffneten Massen könnten sich möglicherweise gegen die Monarchie selbst richten. Anders in Preußen, dem einzigen Land, das seine reformerischen Ideen den deutschen nationalen Belangen unterordnete. Der Friede zu Tilsit hatte im Königreich Preußen Energien freigesetzt, die, in praktische Politik umgesetzt, das napoleonische Imperium am Ende hinwegfegten.

Für jene Männer, die sich nach Tilsit um Fried-rich Wilhelm III. scharten, bedeutete Preußen nicht nur Selbstzweck. Der Reichsgedanke beseelte sie. Mit ihren geplanten Reformen hofften sie, das Land zu einem Kristallisationspunkt für die übrigen deutschen Stämme zu machen und damit zur Einheit des Reiches beizutragen. Diese Männer, die dem Befehl des Gewissens folgten, die den Postulaten der Kantischen Philosophie gehorchten und das friderizianische Erbe weiterzugeben gedachten, waren beileibe nicht alle Preußen. Scharnhorst und Hardenberg waren Hannoveraner, auch die Geburtsorte von Gneisenau, Fichte, Steffens, Niebuhr und Arndt lagen nicht in Preußen. Sie wurden Preußen aus Überzeugung.

Nach dem Tilsiter Frieden verweilte die Königsfamilie noch fast zwei Jahre in Ostpreußen, dort brachte die von allen verehrte Königin Luise ihr achtes und neuntes Kind zur Welt. Im Winter wohnte die Familie im Königsberger Schloß, denn in Berlin standen immer noch französische Truppen. Die ostpreußische Metropole war nun die Hauptstadt Preußens, wobei die unmittelbare Verbindung zum Königshaus das Nationalbewußtsein in der östlichen Provinz ungemein stärkte. Max v. Schenkendorf, Karl v. Clausewitz, Theodor v. Schön, Leopold v. Schrötter, Wilhelm v. Humboldt und Hermann v. Boyen, sie alle geborene Preußen, hatten hervorragenden Anteil an der Neubegründung des preußischen Staates. Daß sich der neue Geist nach wenigen Jahren zur machtvollen Erhebung aufschwingen konnte, war vor allem das Verdienst von Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein. Der Reichsfreiherr, auf dem Schloß seiner Vorfahren in Nassau an der Lahn geboren, trat nach juristischem Studium an der Göttinger Universität in den Dienst des preußischen Staates. Als Grund für diesen Entschluß nannte er später die Verehrung für Friedrich den Großen. 1796 wurde Karl Freiherr vom und zum Stein zum Oberpräsidenten und Leiter der Verwaltung in den preußischen Gebieten Westfalens ernannt, wo er im Sinne des aufgeklärten Absolutismus an der Wohlstandshebung der Bevölkerung arbeitete. Die Lehren der Französischen Revolution, die zur blutigen Schreckensherrschaft und zur Militärdiktatur Napoleons führten, kritisierte er scharf. Die Verwirklichung echter Freiheit konnte er sich nur in der Weiterentwicklung alter deutscher Einrichtungen vorstellen.

Als die Franzosen den Rhein überschritten, wurde der Reichsfreiherr die Seele des diplomatischen und militärischen Widerstandes gegen Napoleon. Im Jahre 1804 als Minister in das Generaldirektorium nach Berlin berufen, stellte er in einer Denkschrift die Notwendigkeit einer Staatsreform heraus: "Der preußische Staat hat keine Staatsverfassung, die oberste Gewalt ist nicht zwischen Oberhaupt und den Stellvertretern der Nation geteilt." Das Generaldirektorium wollte er nach modernen Gesichtspunkten reformieren. Der König jedoch nannte Stein, der die Staatskasse von Berlin nach Königsberg gerettet hatte, einen "widerspenstigen, trotzigen, ungehorsamen Staatsdiener", am 4. Januar 1807 erfolgte seine "Entlassung in höchsten Ungnaden".

Napoleon selbst war es, der im Frieden zu Tilsit die Entfernung des ihm verhaßten preußischen leitenden Ministers, Karl August Fürst von Hardenberg, befahl und Stein zum Nachfolger vorschlug. Nachdem Friedrich Wilhelm III. seinen Groll über den respektlosen Reichsfreiherrn bezwungen und ihn in das Ministeramt zurückgerufen hatte, konnte vom Stein seine Pläne für die Selbstverwaltung weiter Bevölkerungsschichten verwirklichen. Innerhalb Jahresfrist, in der äußersten Not des Staates, hob er mit dem Edikt vom 9. Oktober 1807 zur Bauernbefreiung die bäuerliche Erbuntertänigkeit in ganz Preußen auf und beseitigte fast alle ständischen Beschränkungen.

Ihre sinngemäße Ergänzung fand die neue Befreiung des Landvolkes in der Einbeziehung des städtischen Bürgertums. Bisher war die städtische Bevölkerung von jeder Beteiligung am politischen Leben ausgeschaltet. Steins Ziel galt aber der Umbildung des folgsamen Untertanen zum verantwortungsbewußten Staatsbürger. Mit der unter Mitwirkung des Königsberger Polizeidirektors Frey entstandenen Städteordnung vom 19. November 1808 gewährte Minister vom Stein, "im Namen seiner Majestät, dem Bürgertum die kommunale Selbstverwaltung". Künftig wählten die Städte ihre Magistrate selbst. Zwar existierte eine staatliche Oberaufsicht, aber die Gesamtheit der Stadtverordneten kontrollierte sämtliche Zweige ihres Gemeinwesens. Alle männlichen Bürger, die Grundeigentum oder ein Einkommen über 150 Taler jährlich besaßen, hatten das Stimmrecht zur Wahl der Stadtverordneten. Den Rechten und Pflichten des neuen Staatsbürgers mußte die Verpflichtung aller zur Verteidigung des Vaterlandes entsprechen. Mit größter Anteilnahme begleitete daher Reichsfreiherr vom Stein das Werk der Heeresreform.

Es ist schon erstaunlich, daß gerade in einer Zeit äußerster Demütigung, zeitweilig stand sogar der Fortbestand des Staates auf dem Spiele, solche vorbildlichen Fortschritte erzielt werden konnten. Der König hatte nach dem Desaster von Jena und Auerstedt eine Militär-Reorganisationskommission eingesetzt, an deren Spitze der General Gerhard Johann David v. Scharnhorst und der Oberstleutnant August Neidhardt v. Gneisenau standen. Beide sollten die Ursachen der Niederlage untersuchen, die Unfähigen aus der Armee entfernen, schließlich die notwendigen Reformen durchführen. Scharnhorsts Kommission räumte so gründlich im Offizierskorps auf, daß von den Generalen bis zum Befreiungskrieg nur noch zwei übrigblieben, nämlich Blücher und Tauentzien.

Gerhard v. Scharnhorst (1755-1813), Sohn eines Wachtmeisters, stand viele Jahre als Artillerieoffizier in hannoverschen Diensten, bevor er in die preußische Armee eintrat. Seit 1806 Direktor des Kriegsdepartments, bahnte er in zähen Verhandlungen den Weg für die allgemeine Wehrpflicht. Die militärische Disziplin sollte sich mehr auf das Ehrgefühl als auf den Strafkodex gründen, körperliche Strafen schaffte man ab. Der Dienst im Heere wurde zu einer Ehrenpflicht, die jeder waffenfähige Mann erfüllen sollte. Scharnhorst wollte die Armee zur Schule der Nation machen. Einer seiner Schüler, der junge Karl von Clausewitz, Direktor der späteren Kriegsakademie, ergänzte die Ideen des Reformers. Clausewitz trat für neue taktische Formen der Kriegsführung ein, bei gleichzeitiger Modernisierung von Waffen und Ausrüstung. Scharnhorst wußte nur zu genau, daß die Kampfkraft einer Armee von der Qualität ihrer Offiziere abhängt. Er räumte daher der Auswahl des Offizierskorps oberste Priorität ein. Bisher waren die Offiziersränge ausschließlich dem Adel vorbehalten gewesen, unabhängig davon, wieviel kriegerischer Geist ihm innewohnte. In einer Denkschrift des Militärreformers heißt es: "Sollen bloß adlige Kinder das Vorrecht haben, als Offiziere in zarter Kindheit eingestellt zu werden, während Männer mit Mut und Kenntnis ihnen untergeordnet sind, ohne jemals Aussicht auf Beförderung zu haben?" Das Ziel Scharnhorsts, der selbst dem Bürgertum entstammte, bestand darin, den Bürger von höherer Bildung offiziersfähig zu machen. "Bildung" war damit naturgemäß die zweite Prämisse, die er seiner Heeresreform voranstellte: "Soll die Bildung der Nation gedeihen, so muß das ganze Schulwesen auf den ursprünglichen Boden der Nationalität gegründet sein. Jede Nation ist ein in sich geschlossenes Ganzes, und das ganze Bildungsgeschäft hat auf dieses Ziel hinzuarbeiten." Gerhard v. Scharnhorst erlebte den Sieg über Napoleon nicht mehr, der Generalstabschef Blüchers starb 1813 an einer im Gefecht von Großgörschen erlittenen Verwundung.

Was Scharnhorst und Gneisenau für die militärischen Reformen bedeuteten, vollzog auf dem Gebiete der Erziehung Wilhelm von Humboldt. Von Stein dem König persönlich vorgeschlagen, übernahm Humboldt die Leitung des preußischen Unterrichtswesens. Der 1767 in Potsdam geborene Freiherr Wilhelm v. Humboldt, vom Geist des Humanismus durchdrungen, befreundet mit Schiller und Goethe, diente zuvor als preußischer Gesandter beim Vatikan in Rom. In nur knapp zwei Jahren gelang Humboldt eine beeindruckende Leistung. Er mobilisierte die Kräfte des deutschen Bildungsstandes in einer Weise, wie es vorher nie der Fall war. Sein aus Volksschulen, höheren Schulen und Universitäten bestehendes dreistufiges Erziehungssystem schuf das humanistische Gymnasium, das mit dem Abitur abgeschlossen wurde.

Humboldt gründete 1810 die Berliner Universität. Seit ihrer Gründung zählte die heutige "Humboldt-Universität" die hervorragendsten Gelehrten zu ihrem Professorenkollegium. Humboldts Forderung, daß der Staat zwar die finanziellen Mittel bereitstellen müsse, aber Eingriffe in die Lehre oder Forschung an den Universitäten nicht geduldet werden könnten, setzte sich durch. Erster Rektor der Berliner Universität wurde Johann Gottlieb Fichte. Der Philosoph Fichte, der schon vorher mit seinen berühmten "Reden an die deutsche Nation" für die Erhebung gegen Napoleon gewirkt hatte, mußte seine Aussagen bewußt doppeldeutig halten, war er doch im französisch besetzten Berlin ständig von Spitzeln umgeben. Fichtes Hauptargument lautete: "Durch die Selbstsucht seiner Söhne wird das deutsche Vaterland ruiniert."

Humboldts Plan einer nationalen Erziehung, darin war er sich mit Fichte völlig einig, sollte als scharfe Waffe gegen den Eindringling Anwendung finden. Noch kein halbes Jahrhundert war die kulturelle Emanzipation von Frankreich alt, das sollte nicht noch einmal vorkommen. Beide betonten die Einmaligkeit der deutschen Sprache, weil "durch sie das Volk existiere"; und weiter: Erziehung müsse die Liebe zum "Wahren, Schönen, Guten" wecken. Die Begeisterung für den preußischen Freiheitsdrang war so groß, daß die Professoren Savigny und Niebuhr freiwillig Exerzierdienste leisteten und Fichte sich zum Landsturm meldete. Humboldts hohe ethische Auffassung von der Bildung als einer universalen Idee, die den ganzen Menschen erfassen müsse, blieb wirksam, so lange er die preußische Kulturpolitik leitete. Ver- mutlich aus persönlichen Gründen kam es zum Zerwürfnis mit dem leitenden Minister Fürst Hardenberg. Wilhelm v. Humboldt legte sein Amt nieder und ging als preußischer Gesandter an den Wiener Hof.

Karl August von Hardenberg, Sproß eines vornehmen hannoverschen Adelsgeschlechts, besaß das Ohr des Königs, der ihn in den Fürstenstand erhoben hatte. Er galt als geschmeidiger, zielbewußter Diplomat, im Umgang mit dem Monarchen viel gefälliger als der herrische Freiherr vom Stein. Stein mußte Ende 1808 zum zweiten Mal aus dem Amt scheiden, weil er in einem Brief, den die Franzosen abfingen, zum Volksaufstand gegen Napoleon aufgerufen hatte. Seit 1810, nun mit dem Titel eines Staatskanzlers, leitete Fürst v. Hardenberg die gesamte Politik. Er führte die Reformen Steins weiter, von deren Notwendigkeit beide Männer überzeugt waren. Im übrigen aber lagen ihre Ziele weit auseinander. Wenn Stein für Preußen wirkte, dann hatte er immer das ganze Deutschland im Auge, man könnte ihn als "Großdeutschen" bezeichnen. Hardenberg ist im Gegensatz zu Stein nie ein deutscher Patriot gewesen, dieser "Aristokrat vom Scheitel bis zur Sohle" war ein ausgesprochener Opportunist. Hardenberg vertrat den Grundgedanken, daß sich Preußen dem Zeitgeist angleichen müsse, er akzeptierte manche Lehren der Französischen Revolution und galt vielen als "liberaler Bürokrat".

Ab 1810 war Berlin wieder Residenz des Königspaares. Der Übergang zu neuen Reformen konnte ohne große Erschütterungen vollzogen werden. Wenn auch nicht alle weitgesteckten Ziele erreicht wurden, so schuf doch die preußische Reformbewegung die Basis, auf der die preußische Erhebung und später die Regeneration Deutschlands stattfinden konnten.

Karl Freiherr vom und zum Stein: Der 1757 geborene Staatsreformer kam aus Nassau.

Gerhard v. Scharnhorst: Der 1755 geborene Heeresreformer stammte aus Bordenau.

Wilhelm Freiherr von Humboldt: Der 1767 geborene Bildungsreformer war gebürtiger Preußen.