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15.11.03 / Moskaus Weg zum "Neuen Denken" / Prof. Klaus Hornung über Wjatscheslaw Daschitschews politischen Lebensrückblick

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 15. November 2003


Moskaus Weg zum "Neuen Denken"
Prof. Klaus Hornung über Wjatscheslaw Daschitschews politischen Lebensrückblick

Wjatscheslaw Daschitschew war einer der wichtigsten Berater Michail Gorba-tschows in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. In dieser Zeit leistete er einen wichtigen Beitrag zur Überwindung des Kalten Krieges und damit letztlich auch der deutschen Teilung. Jetzt liegen seine Erinnerungen an die Phase der Umsteuerung der sowjetischen Politik von ihrem totalitär-messianischen Expansionismus zum "Neuen Denken" der Gorbatschow-Ära vor, an deren Konzeptionierung Gorba-tschow dem Berater einen wesentlichen Anteil bescheinigt. Hans- Dietrich Genscher betont in seinem Vorwort die hier zu gewinnenden wichtigen Einsichten in den Prozeß der Meinungsbildung der damaligen Elite in der Spätphase der Sowjetunion. Daschitschews Erinnerungen und beigefügte Dokumente belegen in der Tat, daß damals wichtige Anstöße zu den Veränderungen aus dem Parteiapparat selbst kamen, eine Einsicht, die Auswirkungen auf die Totalitarismus-theoretischen Befunde im Blick auf die späte Sowjetunion hat.

Daschitschew, Jahrgang 1925, Sohn eines sowjetischen Generals, dem Stalin (wie auch anderen Militärs) die Schuld am Vordringen der Deutschen bis an den Stadtrand von Moskau im November 1941 zu-schob und der bis nach des Diktators Tod 1953 in Haft blieb, nahm 1943 bis 1945 noch selbst am Krieg teil, studierte in Moskau und war von 1972 bis 1995 Leiter der Abteilung für außenpolitische Probleme in der Akademie der Wissenschaften, 1987/88 zeitweilig auch Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats im Außenministerium. Seit dem Besuch der deutschen Schule in Moskau in den dreißiger Jahren ist er mit der deutschen Sprache vertraut, widmete seine Habilitationsarbeit der Strategie Hitlers im Westfeldzug 1940 ("Fall Gelb"), die 1973 als Buch erschien. Bald erkannte er, daß die marxistisch-leninistischen Dogmen zur Erklärung weder der Strategie Hitlers noch des Nationalsozialismus insgesamt ausreichten. In dieser Zeit wurde Wjatscheslaw Daschi-tschew mit Klassikern der deutschen Philosophie und Kriegsgeschichte wie Kant und Clausewitz bekannt und nicht zuletzt mit General Ludwig Beck und dessen Widerstand gegen Hitlers abenteuerliche Eroberungspolitik, deren rassenideologische Antriebe den deutschen Diktator als "Zwillingsphänomen" Stalins enthüllten, eine Einsicht, die in den siebziger Jahren natürlich noch nicht öffentlich formuliert werden konnte, von Daschitschew jedoch in verdeckter und indirekter Form in seinen Publikationen an das sowjetische Publikum herangetragen wurde.

Die Untersuchung des nationalsozialistischen Expansionismus in seinem kriegs- und zeitgeschichtlichen Werk wurde für den jungen Wissenschaftler jedenfalls zum Anstoß einer kritischen Analyse auch der zeitgenössischen sowjetischen Hegemonial- und Expansionspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer eigentümlichen Verflechtung messianisch-kommunistischer Zielsetzungen mit den traditionellen russischen Großmachtambitionen, die die sowjetische Elite von Lenin und Stalin bis Breschnew geprägt hatte. Insbesondere die Afghanistaninvasion im Dezember 1979 wurde zumindest von einem Teil der sowjetischen Armee- und auch Parteielite als Kulminations- und Umschlagpunkt des sowjetischen Expansionismus bewertet.

Diese expansionischen Strukturen verschlangen schließlich die Res-sourcen des Imperiums zwischen Brest-Litowsk und Wladiwostok mit dem Ergebnis, daß das System spätestens seit der Zeit Breschnews in oligarchisch-mafiose Strukturen und in eine auch demographische Katastrophe abglitt, in eine "Ära der Selbstzerstörung", die auch noch im nachsowjetischen Jahrzehnt Boris Jelzins fortdauerte. Von Putin erhofft Daschitschew eine Erneuerung Rußlands, das heißt die Befreiung von der mafiosen Symbiose von Staatsapparat, oligarchischem Finanzkapital und Kriminalität, eine effektive Gewaltenteilung als Schutzwall gegen die Willkür der Herrschenden sowie eine marktwirtschaftliche Infrastruktur und die Förderung des bislang fehlenden Mittelstandes, um endlich die reale Produktion in Gang zu setzen, die bisherige Rentenwirtschaft zu überwinden und die Massenarmut zu beseitigen.

Natürlich richtet sich Daschi-tschews Warnung vor hegemonialer Politik heute vor allem an die Adresse der Vereinigten Staaten, wobei er sich - noch vor der US-Intervention im Irak - die harsche Kritik des Amerikaners Chalmers Johnson zu eigen macht: "Aus der Geschichte wissen wir, daß Weltreiche früher oder später kritische Stadien erreichen. Amerika ist arrogant, selbstsicher, überheblich ... Was die Sowjetunion zu Fall brachte, war ihre imperiale Überdehnung. Amerikaner denken, sie seien gegen das russische Schicksal immun. Das ist falsch."

Der Wert des Buches von Wjatscheslaw Daschitschew scheint mir vor allem darin zu liegen, daß es sich hier um eine der seltenen kritischen zeitgeschichtlichen Analysen aus dem Kreis der früheren Kreml-Führung handelt, gewissermaßen eine spiegelbildliche Ergänzung entsprechender westlicher Analysen und Positionsbestimmungen, wie etwa die von Zbigniew Brzezinski, und geeignet, diese westlichen Perspektiven aus dem östlichen Teil des politischen Orbits zu ergänzen. Daschitschews Werk zeigt zum anderen - für manchen überraschend -, daß es, jedenfalls in der Schlußära der Sowjetunion, in Mos-kau verantwortungsbewußte Analytiker und Ratgeber in der Führung gab, denen die Möglichkeit gegeben war, zu ihrem Teil die Politik der Selbstzerstörung in der sowjetischen Ära zu überwinden, nicht ohne politische Gefahren und Rück-schläge, aber doch auch unter dem Schutz der beiden letzten Generalsekretäre der KPdSU, Andropow und Gorbatschow. Solche Einsichten werden zu einem differenzierten Bild des Niedergangs und der Auflösung des totalitären Systems sowjetischen Typs beitragen. Auch hier wurde wieder einmal der Persönlichkeitsfaktor zu einem wichtigen Element des geschichtlichen Prozesses, in diesem Fall zu einem Glücksfall. Schon das Schicksal seines Vaters unter Stalin hatte Daschitschew zu antiautoritären Schlußfolgerungen gelangen lassen. Seine zeit- und kriegsgeschichtlichen Arbeiten führten ihn früh über den Horizont des normalen Sowjetbürgers hinaus zu Gestalten und Positionen des europäischen und deutschen Humanismus, insbesondere zu Clausewitz und General Ludwig Beck, der ihm das simple Geschichtsbild des dialektischen und ökonomischen Materialismus nachhaltig widerlegte. Seine Mitwirkung an der Beendigung des Ost-West-Konflikts und des Kalten Krieges und nicht zuletzt an der Wiederherstellung der deutschen staatlichen Einheit wird geschichtlichen Rang behalten.

Wjatscheslaw Daschitschew: "Mos-kaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik". Verlag E. S. Mittler & Sohn, Hamburg, 530 Seiten, 29,90 Euro

Daschitschew setzte sich für die Wende ein