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15.11.03 / Der letzte Gang

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 15. November 2003


Der letzte Gang
von Werner Hassler

Es war ein klirrend-frostiger Januartag im Jahre 1930, als mein Großvater die Nachricht vom Tode seiner Tante Minna aus der Eifel erhielt. Großvater Johann packte seinen besten Gehrock aus sorgfältig schützenden Einschlagtüchern hervor und langte nach der Schachtel, in der sein Zylinder wohlbehütet aufbewahrt wurde. Großmutter Käthe legte ihr bestes Schwarzes an.

Früh am Morgen begann - für damalige Zeit - eine recht abenteuerliche Bahnfahrt in das kleine Eifeldorf. Fünfmal mußte umgestiegen werden, dazu noch eine gute Wegstunde durch knöcheltiefen Pulverschnee gestapft, bis sie das Dörflein erreicht hatten. Die beißende Kälte ließ sie eilends dem Trauerhaus zustreben.

Leichenhallen gab es noch keine. Die lieben Entschlafenen wurden in der ausgeräumten guten Stube aufgebahrt. Am Kopfende hing ein riesiges Kruzifix, rechts und links des Sarges sorgten Palmen für einen kargen Schmuck. Am Fußende stand ein weißgedecktes Tischchen. Zwischen zwei schlanken Kerzen flackerte mahnend das Ewige Licht. Daneben stand ein Gefäß mit Weihwasser, in dem ein Palmenzweiglein lag.

Lag jemand "auf Leich", wie man im Volksmund zu sagen pflegte, kamen alle, denen der Heimgegangene etwas bedeutet hatte: Angehörige, Freunde, das ganze Dorf, alle eben, die den Dahingeschiedenen gekannt hatten. Im stummen Gebet erinnerte man sich, segnete den Toten mit dem weihwassergetränkten Palmenzweiglein. Wegen der garstigen Kälte im Leichenzimmer wurde der schmerzreiche Rosenkranz etwas schneller stumm vor sich hingebetet. Der Herr wird's ihnen verzeihen.

Dann begab man sich zur Beileidsbekundung zu den Angehörigen in die Wohnstube, wo der Hausherr den Trauergästen aus einer neutralen Flasche hausgebrannten Schnaps als Wegzehrung einschenkte. Damals mußten noch diese Eifeldörfler ihre Leichen zur benachbarten Kirchengemeinde tragen. Es war ein langer Leichenweg dorthin, und es wurden viele Lieder und Gebete verbraucht. Aber die Eifelbauern sangen wenig und leise und sparten den Atem für ihre Arbeit.

Am Trauerhaus angekommen gingen Großvater und Großmutter zuerst ins Leichenzimmer. "Die gute alte Tante Minna", flüsterte Großmutter Käthe, "so friedlich still, als ob sie schlafen würde. Der Herr gebe ihr die ewige Ruhe", und verteilte dabei Weihwasser mit dem Palmenzweiglein über dem offenen Sarg. Dann zog sie ihr blütenweißes Spitzentaschentuch hervor und wischte sich eine einsame Träne aus dem Augenwinkel. Doch nun wich ihre Trauermiene einem erbost prüfenden Blick, und schnüffelnd hob sie die Nase.

"Du, Johann, du wirst doch nicht schon etwa Schnaps getrunken haben?" raunte sie. "Aber Käthe, wie und wo sollte ich denn?" - "Aber hier riecht es nach Schnaps", entgegnete Großmutter flüsternd und dennoch energisch. "Vielleicht ist es aber auch nur so neumodisches Parfümzeugs, das jemand wegen des Leichengeruchs zerstäubt hat", meinte Großvater, um Großmutters Bedenken zu zerstreuen.

Dann ging es in die Wohnstube, wo man sich mit den Angehörigen in stiller Trauer umarmte. Großvaters Cousin Karl stellte sofort die Flasche Hausgebrannten auf den Tisch. "Ihr Ärmsten, ihr seid ja völlig durchfroren!" sagte er, wobei er das Schnapsstamperl großzügig füllte. "Der wird euch tüchtig einheizen!" Großvater nickte dankbar. Doch während des Trinkens hielt er inne. Sollte diese lausige Kälte seinen Geschmacksnerv getroffen haben? "Sag mal, Karl", sprach er langsam und sinnend, "hast du schon mal von dem Zeug getrunken?" - "Nein! Warum? Es schickt sich nicht, den Trauergästen mit einer Schnapsfahne zu begegnen!" - "Wann hast du die Flasche aufgemacht?" - "Als der Pfarrer zum Versehgang kam, da habe ich sie zusammen mit dem Weih... Weih... Weihwasser ..."

Die letzten Silben flüsterte Karl, bekreuzigte sich und ließ sich auf einen Stuhl fallen. "Vertauscht! Mein Gott, dann hat wohl der Pfarrer unsere gute Minna mit dem Hausgebrannten zu ihrem letzten Gang fertiggemacht ..." - "... und all die Trauergäste haben artig das Weihwasser getrunken, wohl aber pietätvoll geschwiegen", fügte mein Großvater hinzu.

In beissender Kälte strebten sie dem Trauerhaus zu

Abendsonne: Zauberhafte Stimmung an der Ostseeküste Foto: Teschke