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15.11.03 / Abschied von Tina

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 15. November 2003


Abschied von Tina
von Rudolf Kollhoff

Schon als Kind ist meine Tina ein ordentliches Mädchen gewesen. Anders als ich hat sie nach dem Spielen ihr Spielzeug aufgeräumt und fein säuberlich im Schrank deponiert. Selbst die Flusen hat sie vom Fußboden aufgesammelt, ohne Staubsauger, eben per Hand. Sie konnte es auf den Tod nicht ab, wenn ihr kleines Reich nicht tipptopp in Ordnung war. Erst wenn jedes Teil an seinem Platz lag, war sie zufrieden. Dann hat sie Feierabend gemacht.

Daran muß ich denken, während ich neben meiner Frau sitze und ihre Hand halte. Heute ist der zweitbedeutendste Tag in Tinas Leben. Vor zehn Minuten hat Tina für allezeit die Augen geschlossen. Die Sonne scheint durchs Fenster. Ein paar vorwitzige Strahlen tanzen auf Tinas Zudeck und auf ihrem Gesicht. Am Kopfende des Bettes, in dem Tina ruht, steht ein Besenschrank. Am Fußende sind große Regale in der Wand eingelassen, vom Boden bis zur Decke vollgepremst mit Wäsche und Pükerkram. Davor staubt ein ausrangierter Rollstuhl vor sich hin.

Wir befinden uns in der Abstellkammer, Tina und ich. Das Krankenhaus verfügt nur über Räume für lebendige Menschen, für frisch verstorbene nicht. So muß ich mich von Tina in der staubigen Kammer verabschieden. Wofür leben wir bloß, frage ich mich zum tausendsten Mal. Sicher nicht in einem Land, das stolz auf seine Kultur sein kann. Ist ein Mensch von einem Moment zum anderen nichts mehr wert? Sobald er amen gesagt hat, muß er Hals über Kopf untertauchen, als wenn die Lebenden nicht daran erinnert werden wollen, daß auch sie sterblich sind.

Das habe ich auch der Stationsschwester auf den Kopf zugesagt. Sie hat mir zur Antwort gegeben, ich könne noch froh sein, daß sie, die Schwester, so ein gutes Herz habe und mir erlaube, mit meiner Tina noch ein bißchen zusam-menzusein. In der Vorschrift stehe, wer verstorben sei, müsse schleunigst mit dem Fahrstuhl in die Prosektur geschafft werden.

Ich versuche froh zu sein. Es will mir aber nicht so recht gelingen. Sacht streichle ich Tinas schmale Hand. Wieder hüpfen Strahlen über ihr Gesicht, und es sieht fast so aus, als wenn Tina mir etwas mitteilen will. Ich beuge mich zu ihr hinunter und streiche ihr eine Locke aus der Stirn. Tina konnte es noch nie ausstehen, wenn ihr das Haar ins Gesicht hing.

Plötzlich klopft es an die Tür. Der Bestatter kommt, ein elegant gekleideter Mann, wie aus dem Titelbild eines Lifestyle-Magazins entstiegen, Dreitagebart und modische Dauerwelle. Hinter ihm gewahre ich, wie sein Kollege eine Bahre heranrollt. Die Räder quietschen ein wenig, und der Gehilfe legt sich ins Zeug, ein betroffenes Gesicht zu ziehen. "Wir müssen uns beeilen", sagt der Bestatter. "Der Stationsarzt hat den Fahrstuhl für uns gesperrt und den Flur freimachen lassen. Sie können Ihrer Frau später adieu sagen."

"Wo wollen Sie Tina hinbringen?" frage ich. Der Mann im todschicken Anzug kommt dichter. "In unser Institut. Wir müssen sie fertig machen."

Fertigmachen? Teufel auch, wie sich das anhört! Meine Tina ist doch noch kein Dingsda, das fertig gemacht werden muß!

"Ich habe eine andere Idee", sage ich energisch. "Wir fahren vorher mit Tina noch einmal nach Hause. Ich will, daß Tina an dem Ort, den sie am liebsten moch- te, Abschied von ihrer Familie nimmt."

"Das war nicht ausgemacht", nörgelt der Dreitagebart. "Wir müssen uns an die Vorschriften halten." Schon wieder Vorschriften. Allmählich kommt mein Blut in Wallung. "Nun gut", sage ich kurz. "Apropos Vorschriften! In den Vorschriften steht auch, daß ich meine Frau sechsunddreißig Stunden nach ihrem Ableben bei mir behalten kann."

Die Schwester schaut in die Kammer. "Machen Sie hin! Wir können Flur und Fahrstuhl nicht den ganzen Tag für Sie freihalten!" - "Brauchen Sie auch nicht", sage ich. "Tina und ich, wir bleiben keine Minute länger in der Abstellkammer. Wir haben was Besseres vor." Die Schwester starrt mich an, als hätte ich mich vor ihren Augen in eine bucklige Brotspinne verwandelt. Dann nickt sie, ohne ein Wort zu sagen.

Eine halbe Stunde später liegt Tina in ihrem eigenen Bett in unserer tipptopp saubergemachten Schlafstube. Der Bestatter und sein Gehilfe kommen erst in sechs Stunden wieder. So ist es abgesprochen. Unsere Kinder haben die Stube mit viel Liebe ausgeschmückt. Überall, wo man hinschaut, brennen Kerzen und Teelichter. Die Blumen, die Nest- häkchen Klaus im Garten gepflückt hat, duften, alles ist so, wie Tina es gern gemocht hat.

"Tina", sage ich zu ihr. "Brauchst dich nicht mehr in der Abstellkammer verstecken. Nun bist du zu Hause, wie es sich gehört." Klar, daß meine Frau keine Antwort geben kann. Aber ein kleines Zeichen, das gibt sie uns. Eine große Staubfluse segelt durch die Luft und bleibt auf ihrem Zudeck liegen.

"Keine Bange, Mutsch." Rasch nimmt Klaus' große Schwester Katja den Fussel auf. "Du hast jetzt Feierabend. Jetzt sind wir an der Reihe."

Noch einmal soll sie an den Ort, den sie am liebsten mochte