19.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
15.11.03 / Nach der Befreiung Europas von Napoleon erfolgte auf dem Wiener Kongreß dessen Neuordnung 

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 15. November 2003


Gleichgewicht statt Demokratie
Nach der Befreiung Europas von Napoleon erfolgte auf dem Wiener Kongreß dessen Neuordnung 
von M. Ruoff

Gemeinhin werden die Kriege, in denen die Völkerschlacht bei Leipzig schließlich die Entscheidung brachte, als Befreiungskriege oder Freiheitskriege bezeichnet. In der Tat führten sie zur Befreiung Europas von der Vorherrschaft Napoleons, aber die Freiheit brachten sie den beteiligten Völkern nicht. Statt vom Selbstbestimmungsrecht der Völker war die Neuordnung des europäischen Kontinents nach dem Ende der napoleonischen Ära eher von Gleichgewichtsdenken geprägt.

Dieses Primat lag vor allem im Interesse Großbritanniens, das - ähnlich wie die USA aus den Weltkriegen - aus den napoleonischen Kriegen als führende See- und Handelsmacht hervorging. Es hatte in den vorausgegangenen Kriegsjahren einen - an der Bevölkerungszahl gemessen - relativ geringen Blutzoll entrichten müssen, hatte auf seinem Territorium keine Kriegsverwüstungen zu beklagen und besaß beste Voraussetzungen, mit seinen Industriegütern den internationalen Markt zu überfluten.

Nicht zuletzt dafür strebte es die Herrschaft über die Meere an, denn auf See wünschte England kein Gleichgewicht. Um eben diese Seeherrschaft zu erreichen und abzusichern, erstrebte die britische Regierung für den Kontinent ein Gleichgewicht. Keiner der dortigen Staaten sollte in der Lage sein, sich die kontinentalen Ressourcen zu eigen zu machen, um damit mit Großbritannien auf den Meeren zu konkurrieren.

Einen kongenialen Partner fand der Leiter der britischen Außenpolitik, Henry Stewart Viscount Castlereagh, in seinem österreichischen Pendant Clemens Wenzeslaus Lothar Nepomuk Fürst von Metternich-Wineburg. Wie der britische Außenminister sah auch der österreichische Staatskanzler mehr noch als im geschlagenen Frankreich im "Befreier Europas", Österreichs mächtigem Nachbarn Rußland, die primäre Gefahr für das Gleichgewicht und damit für den Großmachtstatus der anderen Großmächte.

Der russische Zar wollte als Kriegsbeute Polen, das er als Königreich in Personalunion mit seinem Zarenreich zu regieren gedachte, während Castlereagh und Metternich eben diesen Vorstoß der östlichen Flügelmacht in die Mitte Europas verhindern wollten. Für ihren Widerstand versuchten der Brite und der Österreicher die verbleibende vierte Großmacht der Anti-Napoleon-Koalition, Preußen, zu gewinnen. Immerhin handelte es sich bei Polen größtenteils um vormals preußisches Territorium. Friedrich Wilhelm III. zeigte jedoch wenig In- teresse am Rück-erhalt Neuost-preußens mit Warschau, Südpreu-

ßens und Neuschlesiens. Er war gerne bereit, auf diese polnischen Gebiete zu verzichten, durfte er als Kriegssieger doch damit rechnen, hierfür mit Territorium in Deutschland entschädigt zu werden. In friderizianischer Tradition zielte sein Begehren vor allem auf Sachsen.

In der sächsischen Frage hatten Großbritannien und Österreich von Hause aus gegensätzliche Interessen. Das britische Königreich war grundsätzlich für eine Annexion Sachsens durch Preußen, denn eine Stärkung der kleinsten der fünf Großmächte schien der Stabilisierung des kontinentalen Großmächtegleichgewichtes zu dienen. Das österreichische Kaiserreich hingegen war grundsätzlich gegen eine Annexion Sachsens, denn in diesem Staat hatten die Österreicher einen traditionellen Verbündeten im innerdeutschen Dualismus. Da Metternich jedoch in Rußland eine größere Gefahr sah als in Preußen, kam er schließlich mit Castlereagh überein, daß Preußen Sachsen erhalten solle, wenn es denn Österreich und Großbritannien in der polnischen Frage gegen Rußland unterstützt.

Auf dem vor 189 Jahren tagenden Wiener Kongreß, dessen Aufgabe es war, an die Stelle der untergegangenen napoleonischen eine neue Nachkriegsordnung zu setzen, ließ Metternich seinem preußischen Amtskollegen Karl August Fürst v. Hardenberg am 22. Oktober 1814 eine entsprechende Antwort zukommen, nachdem dieser sich bei ihm wenige Tage zuvor nach der österreichischen Position in der Sachsenfrage erkundigt hatte. Der preußische Staatskanzler war bereit, die geforderte Gegenleistung für die Überlassung Sachsens zu erbringen. So kam es bereits einen Tag später zu einer einvernehmlichen Aussprache zwischen dem britischen, dem preußischen und dem österreichischen Delegationsführer, vom russischen Zaren Alexander I. als "Komplott vom 23. Oktober" bezeichnet. Das Ergebnis waren gemeinsame Gegenvorschläge zu den russischen Vorstellungen. Während der Zar Polen als König zu beherrschen plante, stellten ihn die drei Politiker vor die Wahl zwischen einem eigenständigen Groß-Polen und einem von Rußland abhängigen Mini-Polen.

Als Alexander I. mit den britisch-österreichisch-preußischen Gegenvorschlägen konfrontiert wurde, kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen ihm und Metternich. Der Zar war außer sich ob des Ergebnisses der Dreierrunde und versuchte nun, über die Köpfe der Delegationschefs hinweg direkt mit deren Herrschern ins politische Gespräch zu kommen. Hierzu ergab sich bereits am 25. Oktober eine günstige Gelegenheit. Der österreichische Kaiser Franz I. hatte die beiden zum Wiener Kongreß angereisten Großmachtherrscher Friedrich Wilhelm III. und Alexander I. zu einer Vergnügungsfahrt nach Ofen eingeladen. Auf dieser Fahrt versuchte der Zar den Kaiser und den König für seinen Polenplan zu gewinnen. Bei dem politisch nur wenig interessierten Österreicher biß er auf Granit, da dieser die Politik ganz seinem Regierungschef überlassen wollte, aber dafür war der Russe beim Preußen um so erfolgreicher. Was der Preußenkönig nun tat, kann man - wenn man denn will - als typisch "treudeutsch" bezeichnen. Er sorgte dafür, daß die preußische Außenpolitik auf dem Wiener Kongreß von da an von einem menschlichen Gefühl bestimmt wurde, von dem Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem östlichen Nachbarn für die Befreiung von der französischen Fremdherrschaft.

Die Folge war ein Patt zwischen den Alliierten. Die polnische Frage spaltete die Anti-Napoleon-Allianz in die Briten und Österreicher auf der einen Seite sowie die Russen und Preußen auf der anderen. Eine zusätzliche Belastung erhielt das österreichisch-preußische Verhältnis noch dadurch, daß Metternich Hardenberg in einer Note vom 10. Dezember 1814 seine Mißbilligung einer preußischen Annexion Sachsens wissen ließ.

Angesichts dieser Entwicklung zwischen den Siegern gewann der Verlierer die Funktion eines Züngleins an der Waage. Das französische Königreich, dessen Delegation auf dem Wiener Kongreß von seinem Außenminister Charles Maurice de Talleyrand geleitet wurde, entschied sich für die Unterstützung der britisch-österreichischen Position. Zum ersten war der französische König mit dem sächsischen verwandt. Zum zweiten war die Gleichgewichtspolitik, die Frankreich als Großmacht erhalten wissen wollte, ganz im Sinne des geschlagenen Frankreichs, und zum dritten stand Österreich weniger als Preußen unter dem Einfluß der deutschen Nationalbewegung. Diese Nationalbewegung war jedoch aufgrund der Erfahrung der erlittenen Fremdherrschaft zumindest tendenziell antifranzösisch, forderte den Rückerhalt Elsaß-Lothringens und erstrebte einen Nationalstaat. Der Verlust des Elsaß und Lothringens war Frankreich jedoch ebenso ein Greuel wie ein ihm überlegener deutscher Nationalstaat als Nachbar anstelle vieler ihm unterlegener deutscher Teilstaaten.

Der letzte Tag des Jahres erwies sich in diesem Zusammenhang in zweifacher Hinsicht als Glückstag für das französische Königreich. Zum einen durfte sein Delegationschef auf britisch-österreichischen Druck gegen preußisch-russischen Widerstand erstmals als gleichberechtigter Großmachtvertreter an den Beratungen europäischer Angelegenheiten teilnehmen. Zum anderen verlor der durch den Kursschwenk seines Königs überforderte Staatskanzler Hardenberg die Nerven und ließ sich zu der Drohung hinreißen, daß sein Land und Rußland eine Ablehnung der preußischen Annexion Sachsens als gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung werten würden. Diese Kriegsdrohung war für den trotz der sächsisch-polnischen Krise nach wie vor grundsätzlich preußenfreundlichen Castlereagh derart schockierend, daß er ohne Verzug auf ein französisches Bündnisangebot einging und mit Talleyrand und Metternich am 3. Januar 1815 einen Defensivvertrag abschloß.

Damit war jedoch der Höhepunkt der Eskalation erreicht. Europa war wohl noch zu kriegsmüde, als daß es über Polen und Sachsen schon wieder zu einem Völkerringen gekommen wäre. Zudem schweißte die Rückkehr Napoleons von Elba im März 1815 die Alliierten wieder zusammen. In der polnisch-sächsischen Frage wurde schließlich ein Kompromiß gefunden. Der letztlich bedingungslos vom Preußenkönig unterstützte Zar erhielt den überwiegenden Teil Polens. Damals erhielt Preußen die Ostgrenze, wie sie bis zum Ersten Weltkrieg bestand. Dafür mußte sich Preußen mit etwa zwei Fünfteln des sächsischen Territoriums mit weniger als der Hälfte der Bevölkerung des Königreiches zufriedengeben. Der Rest blieb selbständig.

Da Preußen auf einen großen Teil Sachsens hatte verzichten müssen, mußte der Kriegssieger mit anderem Territorium entschädigt werden. Nachdem das Königreich sich geweigert hatte, sich an der Eindämmung der östlichen Flügelmacht im von Groß-britannien und Österreich ge- wünschten Sinne zu beteiligen, sollte es dieses, so Metternichs Überlegung, nun dafür umsomehr bei der Eindämmung der westlichen Flügelmacht. Hierfür erhielt es ein großes an Frankreich grenzendes Gebiet in Westdeutschland, die Rheinprovinz. Doch nicht nur Deutschlands zweite Macht, sondern auch seine dritte sollte an der Eindämmung der westlichen Flügelmacht beteiligt werden. Deshalb erhielt auch Bayern ein an Frankreich grenzendes Stück des von jener Großmacht besonders bedrohten linksrheinischen Teils Deutschlands, die bayerische Pfalz.

Diese Regelung versprach für Österreich außer der Verteidigung der deutschen Westgrenze durch Deutschlands zweite und dritte Macht noch einen weiteren Vorteil. Es war absehbar, daß sowohl Preußen als auch Bayern fortan versuchen würden, zwischen dem Mutterland und der Exklave in Westdeutschland eine Landbrücke zu schlagen. Dadurch war eine Anlehnung der dazwischen liegenden nord- und süddeutschen Staaten an die deutsche Großmacht Österreich zu erwarten.

Sowohl die preußische Rheinprovinz als auch die bayerische Pfalz hatten bis zum Zweiten Weltkrieg Bestand. Deshalb handelt es sich bei dem 1930 in Ludwigshafen geborenen Altbundeskanzler Helmut Kohl um einen gebürtigen Bayern.

Doch nicht nur in der sächsischen, sondern auch in der Deutschlandfrage mußte Preußen einen hohen Preis für seine Unterstützung Rußlands zahlen. Das bis zu einem gewissen Grade unter dem Einfluß der deutschen Nationalbewegung stehende Königreich bemühte sich um einen vergleichsweise festen Deutschen Bund als Nachfolger des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und anfänglich war Metternich bereit gewesen, dem nördlichen Nachbarn hierin entgegenzukommen. Doch nach dem preußischen Kurs- schwenk in der Polenfrage war es damit vorbei. So kam es zu dem eher im habsburgischen Interesse liegenden lockeren Bund, der eher ein Staatenbund denn ein Bundesstaat war.

Während die Nationalbewegung mit ihrem Streben nach einem Nationalstaat für das ethnisch weitgehend homogene Preußen nicht die Gefahr eines Spaltpilzes bildete, stellte sie für den Vielvölkerstaat an der Donau eine existentielle Bedrohung seines Zusammenhaltes dar.

Doch nicht nur Frankreich und Österreich, sondern auch Großbritannien war an einem deutschen Nationalstaat nicht gelegen. Der Deutsche Bund entsprach der britischen Gleichgewichtspolitik ungleich besser. Er schien einerseits straff genug, um als Verteidigungsbündnis einen Angriff auf das gemeinsame Territorium durch eine der Flügelmächte abzuwehren, und andererseits zu locker, um durch ein gemeinsames offensives Vorgehen gegen Frankreich oder Rußland das Gleichgewicht aus den Fugen bringen zu können.

Selbst aus Rußlands Sicht sprach ein gewichtiges Argument gegen einen deutschen Nationalstaat. Das Zarenreich wünschte an seiner Westgrenze einen Juniorpartner, und für diese Rolle war die vergleichsweise kleine und schwache Großmacht Preußen besser geeignet als ein deutscher Nationalstaat.

Während der Vorherrschaft der nationalliberalen Geschichtsschreibung wurde die auf dem Wiener Kongreß geschaffene beziehungsweise vollendete Nachkriegsordnung kritisch beurteilt, da für die dort versammelten Souveräne, Diplomaten und Politiker die Schaffung eines stabilen Gleichgewichtes Vorrang hatte vor dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und dem Nationalstaatsprinzip. Im heutigen Deutschland jedoch, das zwei Weltkriege erleiden mußte, in dem sich ein Vergleichen der Wiener Nachkriegsordnung mit der ungleich schlechteren Nachkriegsordnung der Pariser Vorortverträge automatisch aufdrängt und in dem es Staatsdoktrin ist, daß der Nationalstaat nicht das Ziel, sondern ein zu überwindender Antagonismus sei - in einem solchen Land wird bei der Gesamtbeurteilung der Wiener Ordnung anstelle der Mißachtung der Nationalbewegungen und des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zunehmend die Stabilität der geschaffenen Friedensordnung in den Vordergrund gestellt.

Wiener Kongreß: Der Kupferstich nach einem Aquarell von Jean-Baptiste Isabey zeigt Metternich (links vor dem Stuhl stehend), Hardenberg (ganz links sitzend), Castlereagh (in der Mitte mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzend) und Talleyrand (mit der Hand auf der Tischplatte rechts am Tisch sitzend)

Die Volkstumsgrenzen wurden ignoriert Ein Nationalstaat blieb den Deutschen versagt, Die Friedensordnung hielt rund 100 Jahre