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22.11.03 / Gerade in der Konjunkturschwäche expandieren große Handelsketten auf Kosten der Einzelhändler

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. November 2003


"Missachtung der Persönlichkeit"
Gerade in der Konjunkturschwäche expandieren große Handelsketten auf Kosten der Einzelhändler

Ein Durchkommen ist fast nicht möglich. Hunderte von Menschen drängeln sich durch die vollgestellten Gänge, wühlen in den Regalen und stehen willig bei den wenigen Umkleidekabinen in der Warteschlange. Entnervte Verkäuferinnen versuchen vollbepackt, die anprobierte, aber nicht gewünschte Ware wieder an ihren angestammten Platz zu bringen, und rempeln dabei versehentlich einige der Schnäppchenjäger an, deren Köpfe nur Richtung Decke auf der Suche nach Schildern mit der Aufschrift "Eröffnungsangebot" gereckt sind.

Dies ist eine ganz normale Eröffnung einer neuen "H&M"-Filiale. Vor einigen Wochen waren in den nun neu renovierten Räumlichkeiten noch drei kleine Einzelhändler, doch als deren Mietverträge ausliefen, war der Vermieter hoch erfreut, einen so zahlungswilligen und sicheren Kunden wie "H&M" in sein Haus zu bekommen.

Allein in Deutschland hat der schwedische Modekonzern "Hennes & Mauritz" 239 Geschäfte - mit steigender Tendenz, denn während die Textilbranche in der derzeitigen Krise wankt und Umsatzeinbußen von 8,5 Prozent im Jahr 2002 hinnehmen mußte, konnte "H & M" ein Umsatzplus von zehn Prozent vorweisen.

Während jedoch der "Aldi der Bekleidung" weltweit expandiert, schließt der Einzelhändler Axel Kirchmann zum 31. Dezember die Tore seines Textilwarenladens. Vor 90 Jahren hatte seine Großmutter das Geschäft gegründet, das bis heute für hochwertige Mode für Ältere bekannt ist. Axel Kirchmann muß einerseits aus gesundheitlichen Gründen das Familienunternehmen aufgeben, andererseits machen ihm auch die Veränderung der Kaufgewohnheiten und die wirtschaftliche Krise zu schaffen. Eine finanzielle Notlage ist zwar noch nicht vorhanden, aber einen Nachfolger für das nicht den derzeitigen Kaufgewohnheiten entsprechende Vollsortiment, das heißt ein Angebot von der Stecknadel bis zum Mieder über Mäntel und Pullover, gibt es nicht.

Axel Kirchmann und seine fünf Mitarbeiter legen Wert auf ehrliche, anständige Beratung. Für den Firmeninhaber betreiben die Textilketten nur eine "Mißachtung der Persönlichkeit". Der 67jährige ist über die derzeitige Abwendung von der Individualität hin zu den Massen entsetzt. "H&M" ist für ihn ein negativer Auswuchs unserer Zeit, wohingegen seine Noch-Existenz bei dem Modegiganten eher Verwunderung auslösen dürfte, denn es sind die Axel Kirchmanns, die "H&M" weichen müssen. Daß aufgrund dieser Entwicklung sich die Innenstädte deutschland-, ja sogar weltweit immer mehr angleichen, wird allmählich sichtbar. Ob Rostock, Berlin, München, Hamburg, Stuttgart, Frankfurt: "H&M", "Karstadt", "P&C", "C&A", "S'Oliver", "Esprit", "Zero", "Adler" dürften überall vertreten sein. Das ist zwar gut für die Grundversorgung, doch das Besondere bleibt dabei auf der Strecke. Eintönigkeit und Langeweile bestimmen das Stadtbild. Daß das Besondere auch Axel Kirchmann heißen kann, mag der Verbraucher noch nicht erkennen, doch wer keinen Geschmack und keine Figur nach der Stange hat, ist bei den großen Ketten verloren.

Aber nicht nur in der Textilbranche muß der Kleine dem Großen weichen. Gerade die Konjunkturschwäche beschleunigt diesen Vorgang. Wobei es vor allem bei seit Jahrzehnten bestehenden Familienunternehmen gar nicht erst zur Insolvenz kommen muß. Sie verschwinden heimlich und fast unbemerkt von der Bildfläche und versuchen wenigstens einen Teil des Familienvermögens, wenn noch vorhanden, zu sichern. So Henning Wulf. Der 35jährige führt seit einigen Jahren das vor ebenfalls 90 Jahren von seinen Großeltern gegründete Möbelgeschäft "Möbel Wulff" in Norderstedt. Zwar sind die großen Möbelketten wie "Ikea" und "Roller" nicht weit von ihm entfernt, doch dank des seit Jahrzehnten aufgebauten Kundenstamms führt er ein Nischendasein. Eigentlich hatte der Mittdreißiger einen Neubau geplant - das neue Möbelhaus ist schon virtuell am Computer begehbar -, Grundstücke wurden dazugekauft und Genehmigungen und Gelder beantragt, doch der Markt schwindet, vor allem für hochwertige Möbel "made in Germany". Die persönlich bekannten Stammkunden ermöglichen trotz Krise ein "Plus-minus-null-Geschäft", doch Henning Wulff braucht Perspektiven. Auf einem der neuen Grundstücke hat sein Bruder ein äußerst repräsentatives Beerdigungsinstitut gebaut; was er selbst und die vier Mitarbeiter ab nächstem Jahr machen, weiß Wulff nicht. Zugegeben, nach der Geschäftsaufgabe wird er nicht mit leeren Händen dastehen - eigentlich sind die Mitarbeiter und der Stammkunde die Verlierer -, doch bliebe Henning Wulff am Markt, würde er sein Erbe riskieren.

Mit dem Sterben der kleineren bis mittleren Familienbetriebe schwindet auch die Beratung, da die Angestellten der Kaufhausketten häufig in zu geringer Zahl vor Ort und zu schlecht ausgebildet sind. Dies ist jedoch die Chance für kleinere Unternehmen wie etwa die Hamburger Eisenwarenhandlung Schüllenbach, die 1865 gegründet wurde. Von zehn Mitarbeitern gehören fünf der Familie an. Das große Sortiment und die versierten Mitarbeiter haben das Unternehmen bisher einigermaßen gut über die Runden kommen lassen. "Ohne Idealismus", so der Firmeninhaber, "würden wir jedoch nicht mehr bestehen." Das heißt in der Praxis für ihn: seit vier Jahren keinen Urlaub und häufig auch Sieben-Tage-Woche.

Auch der Familie Rönnfeld geht es ähnlich. Obwohl schon über 70 Jahre alt, ist auf die Eltern des Konditormeisters Holger Rönnfeld Verlaß. Was wird, wenn sie nicht mehr können, weiß der Sohn zwar noch nicht, doch er sieht positiv in die Zukunft. Konditoren gibt es in der Großstadt Hamburg inzwischen nur noch ganz wenige, und das Internet ermöglicht ihm neue Verkaufswege. Unter www.hochzeitstorten-hamburg.de präsentiert er seine Kunstwerke, denn das sind sie für ihn. Fertigteile kommen diesem Konditor nicht auf die Torte. Der Ofen stammt noch aus den 50er Jahren, und auch die Inneneinrichtung ist nicht nach modernem Design, doch vielleicht ist es gerade der nostalgische Charme, der ihn bestehen läßt, denn es gibt schließlich auch heute noch Menschen auf der Suche nach dem Besonderen.

Nostalgisch ist auch der Tabakladen Otto Hatje. Das 1922 gegründete Geschäft, in dem Zigarren auch noch selber gedreht werden, hat 1990 sogar einen Nachfolger gefunden. Der jetzige Inhaber Stefan Appel fühlte sich, damals Mitte 20, in seinem Beruf als Schlosser nicht wohl. Sein Arbeitsplatz ähnelt zwar einem Museum, aber in diesem Fall wollen die Kunden das. Natürlich wird er hier nicht reich, merkt auch zur Zeit die wirtschaftlich angespannte Lage, doch er ist sein eigener Herr.

Auch wenn es diese Lichtblicke bei einigen kleinen Unternehmen noch gibt, ist es fraglich, wie sie die derzeitige Wirtschaftslage überstehen, denn wenn dem Käufer das Geld fehlt, verzichtet er noch mehr auf Beratung, Qualität und Individualität, was das branchenunübliche Umsatzplus von "H&M" bestätigt. Rebecca Bellano

Masse nicht immer gleich klasse: Die kleine Konditorei Rönnfeld besteht trotz Krisenzeiten dank ausgewogener Mischung zwischen klassischem Handwerk und modernen Marketingstrategien. Foto: Bellano

Bei kleineren Firmen muss häufig die Familie mitarbeiten