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22.11.03 / Heinz Piontek: Mythen der Bewahrung / Reflexionen über das Werk eines schlesischen Schriftstellers

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. November 2003


Heinz Piontek: Mythen der Bewahrung
Reflexionen über das Werk eines schlesischen Schriftstellers
von Renata Schumann

Heinz Piontek, der große Klassiker moderner deutscher Literatur, ist tot. Der am 26. Oktober Verstorbene erlangte frühen Ruhm mit seinen Gedichten, doch besondere Bedeutung verschafften ihm seine Alterswerke - die autobiographischen Romane "Zeit meines Lebens" und "Stunde der Überlebenden".

Der Meister der deutschen Sprache aus Oberschlesien verleugnete seine Herkunft nie. Im Gegenteil, er schöpfte mit vollen Händen aus dem Fundus seiner Erinnerungen an das Land der Kindheit. Ja, er definierte sich durch seine Herkunft.

In einem Interview aus dem Jahr 1990 erklärte Piontek sein Verhältnis zur verlorenen Heimat wie folgt: "Ich bin seit dem Kriegsende nicht mehr in meiner Heimat gewesen, weil sie nicht mehr mein Zuhause ist. Meine Heimat war und ist die oberschlesische Kreisstadt Kreuzburg mit ihrer ländlichen Umgebung (...). Daß diese Stadt (...) 1945 einen polnischen Ortsnamen

erhielt, hängt mit den großen geschichtlichen Veränderungen zusammen, die ich heute als geschichtliche Tatsache hinnehme. Sie hindern mich jedoch nicht, nach Kreuzburg, nach Schlesien, nach dem Osten zurückzukehren, kraft meiner Erinnerung, wann immer ich will, auch mit Hilfe dessen, was ich über meine Heimat geschrieben habe."

Der Schriftsteller Piontek hat in allen Sparten der Literatur Hervorragendes geleistet. In den 50er und 60er Jahren wurde er als bedeutender Vertreter der jungen Generation in einem Atemzug mit den Lyrikern Paul Celan und Karl Krolow genannt, ja gefeiert.

Im Laufe der Zeit veröffentlichte Piontek außer 15 Gedichtbänden eine Flut von Erzählungen und Essays, darunter atemberaubende Meisterstücke der Erzählkunst, inhaltlich spannend und sprachlich brillant.

Allmählich vollzog sich die Hinwendung zu größeren Formen. Es entstanden die Romane "Die mittleren Jahre", "Dichterleben", "Juttas Neffe" und schließlich die beiden autobiographischen Romane "Zeit meines Lebens" (1984) und "Die Stunde der Überlebenden" (1989). Dazwischen die Erzählungen "Nach Markus" und "Goethe unterwegs in Schlesien".

Von Anfang an hoben die Rezensenten die starke Bildhaftigkeit der Sprache Pionteks hervor, die bei aller bereits früh angestrebten klassischen Schlichtheit immer wieder mit schönen Volten überraschte. Überzeugend war auch der unbestechliche humane Ton, der sich weitab hielt von politischen, aber auch zeitgenössisch-philosophischen Moden.

Erlebnisse des Krieges und die Trauer um die verlorene Heimat kommen in Pionteks Lyrik und Prosa immer wieder zum Ausdruck. Aber kein Aufbegehren. Kaum existenzialistische Dunkelheit. Davor bewahrte den sensiblen Künstler die ungewöhnlich starke Verwurzelung in der Bibel und die Achtung menschlicher Bindungen.

Zahlreiche Preise bestätigten den Rang dieses Schriftstellers, der 1976 auch den hochgeschätzten Georg-

Büchner-Preis erhielt. Heinz Piontek veröffentlichte mehr als 30 Bücher, seine Werke wurden in 24 Sprachen übersetzt. Er ist somit einer der wichtigsten Autoren seiner Generation. Allerdings paßte das selbstverständliche Eintreten für die traditionellen Werte nicht so recht in die von linksliberalen Voreingenommenheiten geprägte Literaturlandschaft seiner Zeit.

Den Autor, der siebzehnjährig in den Zweiten Weltkrieg hineingezerrt wurde, verließ zeitlebens das Gefühl nicht, ein zufällig, ein glücklich unglücklicher Überlebender zu sein. Oder wie er selber sagte: ein Überlebender auf Widerruf. Immerhin jeder Dritte seines Jahrgangs war ja in diesem mörderischen Krieg gefallen.

Im zweiten Teil von "Stunde der Überlebenden" läßt er sich in einem Moment des Verzagens zu sich selbst sagen: "Hast du nicht überlebt? Daran halte dich. Und vergiß nicht, sie ist dir geschenkt worden, die Stunde der Überlebenden." - Dieses Bewußtsein und die daraus resultierende Verpflichtung, Zeugnis zu geben, lagen dem Schaffen Pionteks zugrunde.

In "Zeit meines Lebens" erzählt er mit fast pedantischer Genauigkeit seine Kindheit. Der in Kreuzburg in ärmlichen Verhältnissen, aber in familiärer Geborgenheit aufgewachse Autor fügt zahllose Details zu einem glaubwürdigen Panorama zusammen: dem Bild einer ostdeutschen Provinz kurz vor ihrem Untergang. Zugleich ist dieses Buch ein lebendiger Bericht über den Alltag der kleinen Leute in der Zeit des sich breitmachenden Nationalsozialismus.

Vor allem die Armut, die zur Zeit der Weimarer Republik das Schicksal so vieler war, wird durch den Überlebenskampf der Witwe Piontek mit ihren zwei Kindern deutlich. Der Verfasser schreibt: "Bevor unsere Küche nicht pechfinster ist, dürfen wir kein Licht machen. So sparen wir einige Pfennige. Alles findet meine Mutter teuer, sogar eine Kilowattstunde des elektrischen Stroms." Dafür wurde in der Dämmerung viel gesungen, und man erzählte sich Märchen.

Die Armut bereitete den Weg für die braune Diktatur, die sich vor allem dadurch etablieren konnte, daß sich der Lebensstandard der kleinen Leute besserte. Auch Mutter Piontek hatte eigentlich nichts gegen die neuen Machthaber. Ihre Witwenrente wurde erhöht, sie konnte Geld für eine Mangel sparen, aus deren Ertrag sich die Familie kleine Investitionen erlauben konnte - Fahrräder, Bücher, ein Radio. Piontek beschreibt das Sicheinschleichen des Nationalsozialismus aus dieser privaten Perspektive. Er kommentiert es mit den Worten: "Ich lebte in einer Diktatur ohne das Wort Diktatur zu kennen."

Auf den letzten Seiten des Romans wird der Leser Zeuge der Beklemmung in Anbetracht des aufziehenden Grauens, das sich mit den unzähligen Todesanzeigen junger Männer in der Tageszeitung ankündigt. Das beschriebene siebzehnjährige Leben findet sein Ende mit der Einberufung zum Militärdienst. Im Zug steht der junge Mann am Fenster und erinnert sich an eine Dichterlesung in der Schule, in der es zum Schluß hieß: "Und Maria Theresia weinte um das schöne Schlesien."

Pionteks "Zeit meines Lebens" gehört zu den bedeutendsten literarischen Gestaltungen, die das Leben in den verlorenen ostdeutschen Landschaften schildern und potentiell noch für viele Generationen von Deutschen und Polen im Gedächtnis halten. Es verwandelt "das Trauma des ungeheuren Verlustes in einen Mythos der Bewahrung" (Louis F.Helbig).

Lebenslange Heimkehr in der Erinnerung

Heinz Piontek (1963): In den 50er und 60er Jahren als Lyriker gefeiert, wurde er später zum begnadeten Romancier

Foto: Archiv