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22.11.03 / "Ära der Amerikanisierung Europas geht zu Ende"

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. November 2003


"Ära der Amerikanisierung Europas geht zu Ende"

Wjatscheslaw Daschitschew, Mitglied der Moskauer Akademie der Wissenschaften und einst enger außenpolitischer Berater Michail Gorbatschows, analysierte in einer Lesung aus seinem neuen Buch "Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik" alle wesentlichen Aspekte der sowjetischen Außenpolitik in schonungsloser Offenheit. Dr. Herbert Praxl (Studienzentrum Weikersheim) schrieb im Anschluß an die Veranstaltung dem Kenner der sowjetischen Außenpolitik, um mit diesem in eine Diskussion über die Parallelen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten einzusteigen. Den aufschlußreichen Briefwechsel dokumentieren wir an dieser Stelle.

Sehr geehrter, lieber Herr Prof. Daschitschew,

daß es gegenüber der Hegemonie von Supermächten die von Ihnen aufgezeigte "reflektierende Rück-wirkung" gibt, haben die Beispiele Napoleon, Hitler und Stalin überzeugend bewiesen. In der Physik lautet das Gesetz actio gleich reactio. Daß sich die USA derzeit anschicken, mit einer missionarischen Überzeugung einem darauf beruhenden Unilateralismus mit weltweiter Interventionsbereitschaft gegenüber sogenannten "Schurkenstaaten", der "Achse des Bösen" und dem "internationalen Terrorismus" ihre Stellung eines imperialen Welthegemons noch zu verstärken, ist nicht zu übersehen. Sie verweisen auf die Hochrüstung der USA, die jährlich 400 Milliarden Dollar kosten wird, und fragen, wozu? Sie verweisen auch auf amerikanische Kritik, etwa durch Chalmers Johnson. Die Gefahr der politischen Überdehnung, des Hochmutes, der zu Fall kommt, ist auch bei den USA gegeben. Ich frage mich wie Sie und viele andere, werden die USA als Folge einer "Überdehnung" und der "reflektierenden Rückwirkung" ein ähnliches Schicksal wie die Sowjetunion erleiden?

Politisch gibt es manchmal Parallelen. Auch das Verhalten der USA beruht neben der "Herrschsucht" und wirtschaftlichen Interessen auf einer Ideologie, die, wie der Marxismus, eine Heilslehre darstellt, die einen Messianismus und Manichäismus beinhaltet und das eigene Machtstreben legitimieren soll. Sowohl die Ideologie wie das Machtstreben provozieren Rückwirkungen. Ein großer Unterschied besteht aber vor allem auf ökonomischem Gebiet. Die kommunistische Planwirtschaft war der Marktwirtschaft weit unterlegen ...

Neben wirtschaftlichen Interessen spielt auch in den USA eine ideologische Komponente eine erhebliche, wenn auch völlig anders geartete Rolle als in der Sowjetunion. Der von Ihnen angeführte Messianismus der USA ist wie alle grundlegenden politischen Glaubensbekenntnisse religiös oder pseudoreligiös begründet. Im Falle der politischen Klasse der USA beruht die verbreitete Überzeugung von der eigenen Überlegenheit und der Berechtigung, die "Bösen" dieser Welt zu missionieren oder zu vernichten, zu einem guten Teil auf der politischen Instrumentalisierung der kalvinistischen Lehre von der doppelten göttlichen Prädestination. Danach hat Gott einen Teil der Menschheit zur ewigen Seligkeit, die anderen zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt. ... Der Mythos der eigenen Auserwähltheit und der Glaube, "Gods own country" zu sein, das Böse bei anderen absolut verkörpert zu sehen, wirkt immer noch fort. Für viele - nicht für alle - Amerikaner sind der wirtschaftliche Erfolg und die militärische Überlegenheit der USA, das Innehaben der Position des Welt- hegemons, ein Beweis der göttlichen Auserwähltheit und damit der Legitimierung der Hegemonie. Das verführt zu einer manichäischen Schwarzweißsicht der Weltgeschichte, in der sie selbst die absolut gute, ihre Feinde die absolut böse Rolle spielen, was einen Überlegenheitsdünkel bewirkt.

Wie wird es weitergehen? Zunächst ist zu sagen, daß die Instrumentalisierung der Terrorismusbekämpfung als Vehikel des Hegemo- niestrebens durch Präsident Bush jr. in den pluralistischen USA selbst umstritten ist. Unter den Intellektuellen mehr als unter den Politikern gibt es starke Widerstände gegen die derzeitige militaristische Politik. ... Gore Vidal, Noam Chomsky, Barbara Streisand, Chalmers Johnson und viele andere Amerikaner kritisieren die militaristische Politik mit großer Schärfe. Daneben gibt es weltweit eine kritische geistige Auseinandersetzung, an der sich auch viele Kirchenführer, einschließlich des Papstes, beteiligen. Diese argumentative Auseinandersetzung ist meines Erachtens heute vordringlich. Sie hat nichts mit Antiamerikanismus zu tun, im Gegenteil! Wer es mit den USA gut meint, sie langfristig vor Schaden bewahren will, wegen der wirtschaftlichen Bedeutung der USA auch im eigenen und weltweiten Interesse, sollte vor einer "Überdehnung" warnen. ...

Neben der Erkenntnis der fragwürdigen Rechtfertigung und den unverhältnismäßig hohen Kosten einer weltweiten Hegemonialpolitik würden politische Alternativen ausgleichend wirken. Die Europäische Union hat derzeit leider wegen ih-rer Uneinigkeit und militärischen Schwäche wenig Gewicht. Die Großmächte zweiten Grades, Rußland und China, könnten die USA am ehesten bremsen, einmal durch ihr Vetorecht im Sicherheitsrat und zum anderen, indem sie eine regional begrenzte Einflußsphäre geltend machen, die die USA wohl oder übel respektieren würden, weil die Kosten der Überwindung überproportional hoch wären. Vielleicht freut sich aber auch mancher im stillen, wenn sich die USA in weiten Teilen der Welt unbeliebt machen und frühere Partner verlieren.

Die Weltpolitik der nächsten Jahre wird abwechslungsreich und könnte zwischen "reflektierender Rückwirkung" und Anpassung oszillieren. Hoffentlich wird es nicht nur eine Anpassung an den Hegemon, sondern auch dessen Anpassung an bessere Einsichten und die politischen Realitäten geben.

Ihr Dr. Herwig Praxl

 

Lieber Herr Dr. Praxl,

schönen Dank für Ihren Brief. Sie haben wirklich lebenswichtige Probleme der gegenwärtigen internationalen Entwicklung durch das Prisma der USA-Politik angeschnitten. Wohin treibt Washington die internationale Gemeinschaft? Was wird die "Überdehnung" von "Pax americana" und der präventiven Gewaltanwendung durch die Amerikaner der Menschheit bringen? Das sind Kernfragen, die beantwortet werden müssen. Im Grunde genommen teile ich Ihre Darstellung von Zielen und Hintergründen der amerikanischen Politik. Unsere Meinungen darüber stimmen überein. Ich beschränke mich damit, Ihre Überlegungen etwas zu ergänzen.

Meine feste Überzeugung bleibt unverändert: Jedes Hegemoniestreben, ausgehend von einer Weltmacht, führt unvermeidlich zu einem schweren Desaster für die ganze Menschheit und für diese Weltmacht selbst. Es scheint mir, das wurde am Beispiel der sowjetischen Politik in meinem neulich im Mittler & Sohn-Verlag erschienenen Buch "Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik" anschaulich gezeigt. Die USA mit ihrer Arroganz der Macht und ihrem messianischen Expansionismus treten heutzutage als der einzige Störenfried und als der destruktivste und gefährlichste Faktor in der Weltarena auf. Das wird ihnen sicher keine politischen Vorteile bringen. Es ist doch die Tatsache, daß alleine der vom Weißen Haus geplante massive Kreuzzug gegen Irak in breiten politischen und gesellschaftlichen Kreisen der ganzen Welt große und berechtigte Besorgnisse hervorrief und die "reflektierende Rückwirkung" ("actio gleich reactio", wie Sie richtig schreiben) in Gang setzte.

Der "präventive Interventionismus" der USA birgt in sich große Gefahren für den Weltfrieden. Die Militarisierung der USA nahm heutzutage nie dagewesene Dimensionen an. Washington leitete eine qualitativ neue Hochrüstung in der Welt ein. Die "friedlichen Dividenden", dargeboten uns allen durch die Wende von 1990, wurden durch die USA zunichte gemacht. Das zwang andere Länder, auch kleinere, sich mit Massenvernichtungsmitteln gegen die amerikanische Herrschaft abzusichern. So stimulierten die USA selbst, ihren eigenen Interessen zum Trotz, eine unkontrollierbare Verbreitung von nuklearen Waffen in der Welt. Es scheint, als ob die regierende Elite in den USA nicht begreife, daß sie das "Fenster der Verwundbarkeit" der USA selbst ver- größert. Die Bush-Administration zwang auch die Weltmächte wie China, Rußland, Indien, ihre Hochrüstung wiederaufzunehmen und zu beschleunigen sowie neue Waffen zu schaffen, um dem amerikanischen Diktat und der Willkür entgegentreten zu können.

Sie schreiben, daß die Weltpolitik der nächsten Jahre zwischen der "reflektierenden Rückwirkung" und der Anpassung oszillieren wird. Natürlich müssen sich schwächere Länder dem amerikanischen Diktat beugen. Aber die Stärkeren werden ihre nationalen Interessen nicht verkaufen. Aus meiner Sicht kann die Gesetzmäßigkeit der "reflektierenden Rückwirkung" verschiedene Formen annehmen. Sie offenbart sich in der gegenwärtigen internationalen Situation etwas anders als im XX. Jahrhundert. Damals kam es zur Entstehung militärstrategischer Weltkoalitionen gegen die nach der Hegemonie strebenden Mächte (Deutschland in zwei Weltkriegen, Rußland im Kalten Krieg). Zur Zeit stößt die Expansionspolitik der USA auf einen starken Widerstand der Weltöffentlichkeit. Die Bedeutung der breiten Bewegung auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene gegen die aggressive Politik hat sehr stark zugenommen. Das erschwert dem Weißen Haus, seinen abenteuerlichen Herrschaftskurs durchzuführen und kann ihn sogar überhaupt verhindern. Denn zu greifbar wurde die weltweite Erkenntnis, daß selbst ein mittelgroßer Konflikt heute zu einer atomaren Apokalypsis führen kann.

Die Absage der wichtigsten amerikanischen Nato-Verbündeten wie Deutschland und Frankreich, sich an dem Krieg gegen Irak zu beteiligen, und ihr Wille, diesen Krieg nicht zuzulassen und eine friedliche Lösung zu finden, ist eine sehr wichtige Zäsur in den transatlantischen Beziehungen und in der weiteren Entwicklung der Nato. Die Ära der Amerikanisierung Europas geht zu Ende. Die Ära der Europäisierung Europas bricht an. Die Europäer haben die Kriege bis an den Hals satt. Die verantwortungsbewußte Politik der Bundesrepublik und Frankreichs wird zweifellos bei Rußland, China, Indien und vielen anderen Ländern eine politische, diplomatische und moralische Unterstützung (als eine eigenartige "reflektierende Rück-wirkung" gegen die USA) finden. Aber die Schaffung einer militärischen Antikoalition ist nicht glaubhaft. Um so mehr, als in den USA selbst ein wachsender Widerstand gegen die imperiale Politik zu beobachten ist.

Solche Phänomene wie der weit verbreitete Antiamerikanismus und Terrorismus sind auch eine Art der "reflektierenden Rückwirkung" gegen die messianische Herrschsucht und Willkür des Unilateralismus und Abenteurertums der gegenwärtigen USA-Politik.

Ihr Wjatscheslaw Daschitschew