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22.11.03 / Rechtzeitig Abschied nehmen

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. November 2003


Rechtzeitig Abschied nehmen
von Günter Schiwy

Unter den allergünstigsten Umständen kann der Mensch über 115 Jahre alt werden. Die normale Lebenserwartung wird mit durchschnittlich über 70 Jahren veranschlagt. Die Zellen des menschlichen Körpers können sich etwa 40- bis 50mal regenerieren und dann nicht mehr. Der Tod setzt dem Menschen eine nicht zu überwindende Grenze.

Über den Tod zu sprechen ist heute ungehörig. Er ist mit einem Tabu belegt, ebenso wie Geld, Sex und die Religion. Dabei erleben wir täglich Zeichen des Todes durch Todesanzeigen, Beerdigungen oder bei einem Gang über einen Friedhof. Man fürchtet den Tod und deshalb wird er aus unserem Leben verdrängt, einfach ignoriert, als gehe er uns nichts an. Wir haben Angst vor ihm!

Wir wissen alle, daß das Leben nicht das Sterben überdauert, wohl aber kann der Tod in unser Leben eingreifen. Krankheit, Anfeindung, leibliches oder seelisches Leid erscheinen uns als ein Vorgeschmack des Todes. Sterben ist folglich ein Prozeß! Selten stirbt ein Mensch an Altersschwäche. In der Regel beenden Krankheiten, denen der Körper oder eines seiner lebenswichtigen Organe unterliegt, das Leben. Angst ist oft der Auslöser für das Sterben!

So erscheint im Märchen der Tod häufig als eine persönliche Gestalt, der die Kinder ängstigt, weil er zum Ausdruck bringt, daß der Mensch über seinen Tod nicht verfügen, daß er ihn nicht überlisten kann. Unter anderem erscheint "Freund Hein" und reißt die Menschen mitten aus ihrer Arbeit, oder es kommt der Schnitter als "Sensenmann", und alle Menschen fallen durch seinen Schnitt wie die Getreidehalme. Das Neue Testament hingegen hat den Tod nirgends personifiziert.

Die Mediziner dagegen sagen, wenn die Kräfte gegen das Sterben nicht mehr ausreichen, tritt der Tod ein, weil der Mensch den Todeskampf vor Erschöpfung nicht bestehen kann. Es steht auch fest, daß jeder von uns seinen individuellen, seinen bestimmten oder vorbestimmten Tod stirbt. Viele Ärzte erklären nach langjähriger Erfahrung, daß nahezu unmerklich ein Zustand des Friedens bei dem Sterbenden eintritt und die Kranken mit Ruhe dem Tod entgegensehen, wenn ihre Stunde gekommen ist.

In unserer modernen Gesellschaft wird der Tod als das Böse, als Feind angesehen, weil seit der Säkularisierung die Todesmotive einfach verdrängt werden. Deshalb leben die Menschen heute ihren gesteigerten Lebensappetit richtiggehend bis an die Grenze ihrer Freiheit und ihres Todes aus.

Muß man eigentlich nicht sein ganzes Leben lang das Sterben lernen? Wir wissen doch, daß wir alle geboren sind, um zu sterben. Wir kennen nur den Zeitpunkt nicht! Kann man das Sterben lernen, ein Ereignis, das unvorhersehbar ist? Der Tod gehört doch zu unserem Leben! Trost kann man vielleicht darin finden, daß man in seinen Nachkommen weiterlebt. Das Leben geht weiter, selbst wenn wir als Individuum sterben. Der Tod ist erforderlich, um den Fortgang des Lebens in der Natur zu sichern. Wir leben außerdem im Gedächtnis der nachwachsenden Generation weiter. Der Tod ist immer ein Opfer für eine gute Sache, für das künftige Gemeinwohl. Also sollten wir den Tod annehmen!

Wenn ich weiß, daß mir der nahe Tod bevorsteht, dann rückt er einige Perspektiven in mir zurecht. Er dient mir unter Umständen als Befreier. Ich muß nämlich nicht klammern und ständig horten und ansammeln. Ich nehme ohnehin nichts mit. Bekanntlich hat das letzte Hemd keine Taschen! So hat alles seine Zeit: das Geborenwerden und das Sterben!

Nehmen wir den Tod als Ratgeber oder Begleiter an. Er steht doch ständig neben uns!

Am letzten Sonntag des Kirchenjahres, am Totensonntag, werden wir mit dem Tod konfrontiert. Aber wir sollten an ihn nicht nur einmal im Jahr denken, damit wir klug und weise werden. Wir sollten ihn in unser Leben reali-stischer einordnen; vielleicht würden wir uns so die Angst vor ihm nehmen. Es geht am Totensonntag auch nicht nur um den Tod der Vorfahren, nein, auch um unseren eigenen. Selbstverständlich kann man nicht ohne Unterlaß an das nahe Ende denken. Um Gottes willen, das sollte man keineswegs tun, würde man dann doch ohne Hoffnung leben. Nein, und dennoch brauchen wir keine feste Verankerung auf dieser Welt, als würden wir ewig leben. Wir sollten mehr ein wenig "abschiedlich" leben, weil Abschiede einfach erforderlich sind und auch immer wieder vorkommen werden. Und je älter wir werden, um so mehr Abschiede erleben wir, um so mehr müssen wir loslassen; irgendwann sind wir dann selbst dran! Dann stehen wir davor und stellen fest, daß wir zuletzt allein die Verantwortung für dieses unser Leben tragen, ganz einsam mit all unseren Gefühlen und unserem Gewissen, mit all unseren Schwächen und unserem Ausgeliefertsein: Ein jeder für sich selbst!

Den Tod nicht als Feind ansehen, sondern ihn akzeptieren