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29.11.03 / Ein Kind ist angekommen

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 29. November 2003


Ein Kind ist angekommen
von Hannelore Patzelt-Hennig

In der kleinen Flüchtlingswohnung mit Brennhexe in der Küche und Kanonenofen in der Wohn-Schlaf-Stube war es weih-nachtlich geworden. An den Fensterscheiben klebten aus Heftdeckeln gefertigte Transparente mit Motiven wie Weihnachtsmann, Weihnachtsbaum, Stall und Stern von Bethlehem, Glocken und ähnliches. Alle waren von Gisela Gutt gefertigt worden, nachdem sie es in der Schule gelernt hatte. Und den kleinen Stubentisch zierte ein Deckchen aus rotem Kreppapier, in das Giselas Mutter mit der Schere Sterne, Engel und Kerzen als Muster geschnitten hatte.

Auf dem mit diesem Deckchen überbreiteten Tisch stand jetzt, in der Adventszeit, ein Teller mit dickem, mandelbelegtem Blechpfefferkuchen, in handliche Stücke geschnitten, die immer nachgelegt wurden. Ein Reichtum, den man über vier Jahre nicht mehr gekannt hatte. Es herrschte viel Freude bei Gutts in dieser Vorweihnachtszeit. Sie lebten erst seit einem knappen halben Jahr hier im Westen Deutschlands. Und der Vater war erst vor drei Monaten aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Die Freude über das Zusammensein nach vielen Jahren des Getrenntseins war jeden Tag von neuem groß und bedeutete unbeschreiblich viel. Und vieles andere gab es jetzt auch für Gisela wieder, was sie lange entbehren mußte. Dazu gehörte nicht zuletzt, spielen zu dürfen, statt tagsüber arbeiten zu müssen, um sich selbst zu ernähren, wie es lange gewesen war.

Ein besonderes Glück bedeutete ihr auch, wieder Schuhe tragen zu dürfen, nicht nur in Holzpantinen herumlaufen zu müssen. Sich warm anziehen zu können, wenn man nach draußen ging, war für sie ebenfalls lange nicht selbstverständlich gewesen. Und Geburtstag zu feiern mit Torte und Kerzen hatte sie vier Jahre lang vermißt. Kurz und gut, es gab keinen Tag in ihrem jetzigen 11jährigen Leben, der nicht ganz bewußte Freude in ihr aufkommen ließ. Selbst wieder in die Schule gehen zu können, empfand sie als ein Glück, obwohl es viel Anstrengung erforderte nach den vier schullosen Jahren in russischem Gewahrsam.

Und jetzt erfüllte sie noch eine unbeschreibliche Vorfreude auf das näherrückende Weihnachtsfest. Welch wunderbare Zeit! - In der Schule hing ein dicker, mit roten Kerzen bestückter Adventskranz von der Decke. Es wurden Weihnachtslieder eingeübt und gesungen, Weihnachtsgedichte gelernt und aufgesagt. Außerdem war eine Weihnachtsaufführung geplant, für die eifrig geprobt wurde. Auch Gisela hatte eine Rolle. Sie sollte also zum ersten Mal im Leben auf einer Bühne stehen. Alles in allem gesehen meinte sie, noch nie glücklicher gewesen zu sein. In ihrem ganzen Leben nicht.

Aber dann kam ein Nachmittag, an dem sich zeigen sollte, daß auch in ihrem Herzen noch ein Wunsch lebte, dessen Erfüllung nicht berechenbar war. Und er war gar nicht so klein. Es hatte plötzlich gefroren. Die überschwemmte Wiese vor dem Clausenschen Hof bildete eine große, spiegelglatte Eisfläche. Dort trafen sich an den Nachmittagen jetzt die Kinder des ganzen Dorfes zum Schlittschuhlaufen, Glitschen und ähnlichem munteren Treiben. Von fröhlicher Lebhaftigkeit bis zu lautem Gezänk war jegliche Art Stimmengewirr zu hören.

An einem späten Nachmittag aber schlug diese Geräuschskala ganz plötzlich um. Es ging ein Raunen und Weitersagen durch die sich dort tummelnde Schar, bis es Monika Clausen erreichte, die gerade am anderen Ende der Eisfläche schlitterte.

Monika Clausen war Gisela Gutts beste Freundin. Und da sie sich fast ständig aneinander orientierten, bemerkte Gisela aus einiger Entfernung, daß Monika plötzlich über das ganze Gesicht strahlte. Daraus war zu schließen, daß etwas besonderes geschehen sein mußte. Eilig lief Gisela zu ihr. Da erfuhr sie, daß Monika soeben ein Brüderchen bekommen hatte. Und kaum hatte Monika es Gisela erzählt, lief sie auch schon davon. Aber diese Neuigkeit bewegte alle, nicht nur Monika.

Vielleicht lag es daran, daß es so unmittelbar vor Weihnachten geschah. Viele freuten sich aber auch von Herzen für Monika, daß sie, nachdem sie elf Jahre lang geschwisterlos gewesen war, endlich nicht mehr allein war. Jedenfalls setzte sich die ganze jugendliche Schar wie in stummem Einvernehmen in Bewegung und strebte in einigem Abstand von Monika langsam dem Clausenschen Anwesen zu. In einiger Entfernung vom Haus blieben die Kinder dann stehen.

Eine Weile nachdem Monika ins Haus gegangen war, trat ihr Vater heraus. "Was wollt ihr denn?" fragte er zugleich gerührt und verwundert. "Wir wollen gern den Kleinen sehen!" sagte jemand verlegen. "Heute geht das nicht! - Der ist doch kaum auf der Welt! Aber vielleicht morgen! Am Fenster! Kommt man so um fünf wieder her."

Vater Clausen lächelte. Die Kinder zogen zufrieden davon. Aber am nächsten Nachmittag um fünf standen sie wieder da. Jetzt konnten sie sich den ungefähr einen Tag alten kleinen Erdenbürger am Fenster betrachten. Auch Gisela war dabei. Und sie wurde von Monika sogar ins Haus gebeten und durfte dann eine Weile am Körbchen stehen. Gisela sah in dem Brüderchen von Monika das Größte, was einem beschert werden konnte. Und zuhause sprach sie das auch wiederholt aus. Die Mutter äußerte sich dazu jedoch nur rein wirtschaftlich. Sie hätten zum Leben kaum das Nötigste, eine ganz enge Wohnung, noch fast ohne Möbel, und wenn der Vater arbeitslos werden würde, womit man rechnen mußte, da wäre nur zu gut, wenn der Klapperstorch sich bei ihnen nicht einstellte. So sagte sie. Aber das wollte Gisela alles nicht gelten lassen. Es hätte im Ort schon bei so mancher Flüchtlingsfamilie ein Baby gegeben, nachdem die Väter aus der Gefangenschaft zurückgekommen waren. Und bei jenen Familien wäre auch alles knapp und die Wohnungen beengt, was aber alle nicht daran hinderte, sich über die Kleinen zu freuen. Die Mutter sagte nichts weiter dazu. Aber Giselas Herzenswunsch sollte sich nicht erfüllen; sie blieb geschwisterlos.

Was sie heute bewegt, ist, daß jetzt ihre Enkelin sehnsüchtig in jeden Kinderwagen schaut und sich nichts mehr wünscht, als ein Brüderchen oder ein Schwesterchen zu bekommen. Daß es sich nicht erfüllt, daran ist nicht eine materielle Knappheit schuld, oder eine zu kleine Wohnung. Es heißt: Ein Kind genügt! Und Verständnis für die Enkelin hat in dieser Hinsicht auch nur sie, Gisela. Aber sie hat darauf nun mal keinen Einfluß. Sie weiß nur, daß sie sich für die Enkelin sehr freuen würde, wenn sich für das Kind vielleicht doch erfüllte, was sich für sie selbst nicht erfüllt hatte.