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06.12.03 / Temperament im Eis

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 06. Dezember 2003


Temperament im Eis
von Heinz Glogau

Den Ausdruck Quarantäne hatte ich zuvor noch nie gehört. Ende Januar 1944 hörte ich ihn nicht nur, sondern ich erlebte ihn auch praktisch, nämlich in einer Erdbaracke nördlich von Moskau in Wologda mit 300 anderen ehemaligen Angehörigen der deutschen Wehrmacht. In Güterwagen hatte man uns aus Leningrad rausgekarrt. Und nun lagen wir auf fast endlosen dreistöckigen Bretterpritschen in einer Baracke, von der nur das Dach aus dem Erd-reich hervorlugte. Drei Wochen lang schirmten uns MP-bewaffnete russische Posten von der Umwelt ab. Wir waren zum Nichtstun verurteilt.

Zuerst dösten wir alle so dahin. Doch das währte nicht lange. Man kam mit den Nachbarn links und rechts ins Erzählen, wobei hin und wieder auch andere Kameraden mit einbezogen wurden.

Da gab es zum Beispiel einen finnischen Leutnant, einen Jagdflieger, der über dem finnischen Meerbusen von sowjetischen Jagdfliegern abgeschossen worden war. Er landete mit seinem Fallschirm in der Ostsee. Matrosen der Rotbannerflotte fischten ihn aus dem Wasser und schafften ihn nach Leningrad. Der Fliegerleutnant konnte nur ein paar Brocken Deutsch. Doch mit der Zeit hatten wir seine Geschichte vollständig vor Augen. Oft sang er uns ein deutsches Lied vor, das leider keiner von uns kannte. Der Refrain ging ungefähr so: "Sonne, Mond und Sterne sieht man ach so gerne" oder "... in der Ferne?" Der Finne freute sich, wenn er sah, daß wir ihn verstanden.

Neben ihm lag einer, dem man es sofort ansah, daß er älter war als alle seine Nachbarn. Seine Geschichten, die wir und die Langeweile aus ihm herauslotsten, waren noch eine Stufe interessanter als die des Fliegers. Er war, man sah es an seiner Uniform, ein Zahlmeister. Wie kommt so einer, der doch normalerweise weit hinter der Front seine Tätigkeit ausübt, in Kriegsgefangenschaft?

Gesprächig war er nicht gerade. Doch wir hatten Zeit wie noch nie. "Wo waren Sie Zahlmeister?" - "Und wie kamen Sie in die Newastadt?" Diese Fragen bohrten in uns, und mit ihnen bohrten wir unseren Pritschennachbarn. Und nach einigen Tagen hatten wir die ganze Geschichte raus.

Unser Nachbar war Zahlmeister in Lettland gewesen. Also weit weg von Schützengräben und Artilleriegewittern. Auf einer seiner notwendigen Inspektionsfahrten stoppten ihn russische Partisanen mit Maschinenpistolen und "Ruki werch"-Gebrüll. Sie nahmen ihn mit in ihr Waldlager, und nach einigen Tagen in dunklem Erdbunker flackerten auf einer benachbarten Waldwiese zwei Feuer. Es knatterte plötzlich dicht über den Kiefern, und ein zweisitziger Doppeldecker mit rotem Stern unter den Tragflächen landete auf der kleinen, freien Fläche. Der deutsche Zahlmeister mußte einsteigen, und ab ging's in die belagerte Stadt an der Newa, wo man ihn kühl, aber zielgerichtet befragte. Und nun lag er wie wir auf der Bretterpritsche in Wologda.

Ehe wir uns versahen, war die Quarantänezeit vorüber. Zahlmeister und Fliegerleutnant kamen in ein Offizierslager. Und ich bin ihnen nie wieder begegnet.

Landser und ehemalige Unteroffiziere schickte der Lagerkommandant zur Arbeit in ein Kraftwerk. Natürlich nicht an Schal- terhebel und -knöpfe, sondern an elektrische Kreissägen, mit denen lange Baumstämme in Meterenden gesägt wurden. Aus Karelien kamen sie als Flöße, die jedesmal aus sieben bzw. acht Kiefernstämmen bestanden. Mich schickte der Meister gleich in die Bucht, die Stämme voneinander zu trennen und einzeln in die Schlinge eines Drahtseils zu bugsieren. Eine Winde zog die Stämme einen Hang hoch. Dort oben brummten und kreischten drei Kreissägen, die die Kiefern in Meterstücke trennten. An den Hebeln der Kreissäge standen ehemalige Krieger, die nun zu friedlicher Tätigkeit angehalten wurden.

Damit das nicht so sehr nach Zwang aussah, nutzten unsere russischen Natschalniks den von ihnen gelobten Wettbewerb. Das bot sich hier äußerst praktisch an, denn auf dem Holzplatz arbeiteten nicht nur Deutsche, sondern Angehörige dreier Nationen. Also an jeder Säge eine andere Riege. Die linke mit deutscher, die mittlere mit spanischer und die rechte mit finnischer Mannschaft. - Zur Erklärung für jüngere Leser muß ich hier wohl einfügen, daß die Spanier aus Franco-Spanien stammten und vor der Gefangenschaft der sogenannten "Blauen Division" angehört hatten, die Franco als Dank für den Einsatz der deutschen "Legion Condor" im spanischen Bürgerkrieg an die deutsch-russische Front geschickt hatte.

Trotz Frost und Schnee zeigten die Südländer Temperament. Das war natürlich was für die russischen Meister, denn sie brachten den Wettbewerb erst so richtig in Schwung, wenn auch die Finnen mit ihrer kühlen Art ihn eisig bremsten. Das fanden die Deutschen sympathisch, doch ließen sie sich vom spanischen Feuereifer anstecken und ihr kreisrundes Sägeblatt höllisch mitkreisen.

Zum Feierabend kam der russische Meister und maß mit seinem Meterstab die Stapel, die sich jeweils hinter jeder Säge in Meterhöhe angehäuft hatten. Er maß zuerst den deutschen, dann den finnischen und zuletzt den spanischen Stapel. Mit bloßem Auge sah jeder, daß der finnische gegenüber den anderen um Meter zurücklag. Das spanische und das deutsche Gesägte sah ziemlich gleich aus. Doch der Meister befand und verkündete meistens, daß der von den "Blauen" gesägte und gestapelte Haufen um zwanzig oder dreißig Zentimeter länger war. Die Spanier machten daraufhin einen Höllenlärm, schrieen "Eviva España!", klopften dem deutschen Sägeblattführer aufs Kreuz und meinten: "Morgen wetteifern wir wieder, mal sehen, vielleicht seid ihr morgen besser." Schweigend standen die Finnen daneben. Hin und wieder schüttelten einige von ihnen ihre Köpfe.

Als wir "heimwärts" ins Lager stiefelten, meinte Herbert neben mir: "Ich hab's wieder deutlich gesehen. Wie schon so oft hat Iwan Iwanowitsch den Stapel der ‚Blauen' so gemessen, daß achtzig Zentimeter schon als Meter galten. Er begünstigt ständig diese Schreihälse." - "Was können wir da schon tun?" brummte ich. Dabei überlegte ich, wie ich im Lager meine feuchten Filzstiefel, die ich mir auf den Flößen geholt hatte, wieder trocken bekäme.

Wie die deutsch-spanische Geschichte in Wologda einmal geendet hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Im März 1944 saß ich dann wieder in einem russischen Eisenbahngüterwaggon, und danach galt's erneut, drei Wochen Quarantäne durchzuliegen. Anschließend machte ich im Ural noch Bekanntschaft mit Ungarn, Rumänen und Italienern. Doch jede Begegnung war anders als die mit den Spaniern und Finnen.

Tiefer Winter: Birkenallee in Ostpreußen Foto: Bosk