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20.12.03 / 27.12.03 / Alle guten Gaben

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 20. u. 27. Dezember 2003


Alle guten Gaben
von Ruth Geede

Klein-Koddern lag weit hinten im Wald. Sehr weit hinten im Wald lag Klein-Koddern, schon dicht an der Grenze, und es war verwunderlich, daß es da überhaupt noch ein Dorf gab. Wobei die Bezeichnung "Dorf" auch nur bedingt stimmte, denn dieses knappe Dutzend strohgedeckter Katen gehörte zum gut eine Meile entfernt liegenden Kirchdorf und hatte keinen Eigennamen. Ursprünglich war es mal eine Köhlersiedlung gewesen, aber es wurde hier schon längst keine Holzkohle mehr gebrannt. In den verlassenen Hütten hatten dann Grenzgänger gehaust, einige waren geblieben, sie ernährten sich mehr schlecht als recht und hielten gerne Abstand von den Leuten im Kirchdorf. Auch umgekehrt. Nicht umsonst hatten die Dörfler der Handvoll Hütten da "hinterm Wohld" den Namen "Klein-Koddern" verpaßt.

Aber der Wald war schön, dicht und groß, er bot Pilze und Beeren, "Schischkes" und Holz zum Heizen und allerhand Beute zu Land und zu Wasser. Romantisch Veranlagte hätten vom "tiefen Tann" sprechen können, aus dem laut den Gedichten, die der Herr Lehrer in der Adventszeit vorlas, der Weihnachtsmann kam. Aber den gab es ja nur in den Märchenbüchern. Jedenfalls für die Kinder von Klein-Koddern. Und die Märchenbücher gab es auch nur in der Schule oder im Pfarrhaus - wer besaß in Klein-Koddern schon ein eigenes Buch? Nur der alte Priemel hatte eine Bibel, und aus der las er am Sonntag vor, aber von einem Weihnachtsmann stand da nichts drin. Und wenn es ihn wirklich gegeben hätte, so wäre er sicherlich nie nach Klein-Koddern gekommen.

Aber einmal muß der gute Alte doch den Weg dorthin gefunden haben, und dazu im dicksten Schneegestöber, das jede Wegmarkierung verschluckte. Es ist lange her, sehr lange sogar, aber die Kinder von Klein-Koddern haben dieses Weihnachtswunder nie vergessen und noch im späten Alter davon erzählt. Es wurde allerdings immer wundersamer mit der Zeit, aber wenn man die Schale knack-te, dann kam wie bei einer vergoldeten Weihnachtsnuß ein simpler Kern zum Vorschein. Und den wollen wir uns zu Gemüte führen.

Die Geschichte beginnt an dem schneeverhangenen Morgen eines Heiligen Abends - wie gesagt, vor sehr langer Zeit. Die Frauen von Klein-Koddern kochten den Kissehl, die Weihnachtsspeise aus Hafermehl, und ansonsten gab es keine großen Vorbereitungen, die harten Pfeffernüsse waren bereits gebacken, die Äpfel hervorgeholt, der Sauerkohl aus dem Faß genommen, dort, wo gut versteckt vor den Augen des Försters am Schuppen ein Hase hing und auf das Abziehen wartete. Von einer fetten Gans, von einem saftigen Schinken, von dicken Speckseiten konnte man in Klein-Koddern nur träumen. Zumal es ein schlechtes Jahr für die Leute im Wald gewesen war, denn die Wege waren durch einen verregneten Herbst grundlos geworden. In Klein-Koddern war in jenem Jahr wirklich Schmalhans Küchenmeister.

Nicht so in dem Kirchdorf, wo man sich auf das Fest fröhlich vorbereitete, denn es war tüchtig eingeschlachtet worden, Mohnstriezel und Marzipan verströmten süße Düfte, das Weihnachtsbier war aus dem Keller geholt, ein klarer Schnaps wärmte den Magen. Jedenfalls den der Männer, die sich zu einem frühen Festtrunk im Krug zusammenfanden, weil die Frauensleut' ja noch so viel zu beschicken hatten.

So manch einer der wohlhabenden Besitzer zeigte sich spendabel, und davon profitierten auch die weniger Betuchten wie der Gemeindediener Paulus. Der war auf seinem Weg ins Spritzenhaus, wo er den beiden Arrestanten, zwei am Vortag bei einem Einbruch gefaßten Grenzgängern, das Essen bringen sollte. Außerdem sollte er die Kalus einheizen, denn es war bitterkalt, und ein Schneesturm kündigte sich an. Deshalb wurde Paulus zum Aufwärmen in den Krug geholt, was auch sehr gründlich geschah. Und damit er auf dem Weg zum Spritzenhaus nicht zu sehr abkühlte, gab man ihm noch eine halbe Flasche Kornus mit auf den Weg.

Der gute Paulus, nun auch festfroh und milde gestimmt, entdeckte die Arrestanten bibbernd in einer Ecke der eiskalten Kalus, heizte ein - den Kanonenofen mit Torf, den Leib mit Schnaps -, wobei er gutmütig den gut zwei Daumen breiten Rest den beiden Landstreichern überließ. Leicht beschwiemt verließ der Gemeindediener das Spritzenhaus, wobei er nicht nur den leeren Torfsack, sondern auch den Schlüssel vergaß, der im Schloß steckte.

Die aufgewärmten Arrestanten hatten diesen Vorgang mit wachsender Spannung vermerkt. Das war ja wirklich ein unerwartetes Weihnachtsgeschenk, das ihnen der gute Paulus bereitete. Allerdings ungewollt und vorerst auch unentdeckt, denn für den Gemeindediener wurde die Zeit eng, da er noch vor Beginn der Weih-nachtsandacht in der Kirche sein mußte, weil er auch Kirchendiener und für die Kollekte zuständig war. Ein früher Weihnachtsabend senkte sich über das Dorf, über den Himmel jagten dunkle Wolken, und es begann zu stiemen.

Das war gerade das richtige Wetter für die beiden Landstreicher. Sie hatten sich in einem Schuppen am Dorfrand versteckt, und als die ersten Schlitten zur Kirche fuhren, brachen sie in das nächstgelegene Gehöft ein, füllten den leeren Torfsack mit dem für das Weihnachtsmahl bereitgestellten Gänsebraten und grapschten sich auch süßes Zeug wie Marzipan und Katharinchen.

Auch das nächste Haus war menschenleer, aber die Räucherkammer offen. Schnell füllte sich der Sack mit Speck, Würsten, Schinken und Gänsebrüsten. Dann brachen sie in den Krug ein und erwischten ein paar Tonkruken mit Schnaps. Als die Kirchenglocken das Ende des Gottesdienstes einläuteten, waren die Diebe schon längst im Schneegestöber verschwunden, das nun mit voller Wucht einsetzte.

Da die beiden Landstreicher die einsamen Wege zur Grenze nur allzu gut kannten, war ihnen der dichte Schneefall sehr willkommen, denn er verwischte jede Spur. Nur hatten sie nicht damit gerechnet, daß auch der Förster zur Kirche gefahren war und nun mitten im Wald die beiden schwer an ihrer Diebesbeute schleppenden Gauner entdeck-te. Beim ersten "Heda" und dem wütenden Gebell des Jagdhundes ließen sie den schweren Sack fallen und verschwanden schleunigst im Unterholz. Das geschah gerade am Dorfrand von Klein-Koddern.

Aufgeschreckt durch das Hundegebell liefen die Bewohner nach draußen, aber der Förster hatte die Verfolgung aufgegeben und kämpfte sich mit seinem Schlitten durch das Schneegestöber in Richtung Forsthaus, und so gab es nichts zu ent-decken. Bis auf den Sack, über den der alte, schon sehr taprige Priemel gestolpert war, weil er den im tiefen Schnee übersehen hatte. Und der Sack war so schwer, daß der Alte ihn nicht alleine in das Haus schleppen konnte. Da halfen alle Nachbarn gerne mit. Deshalb mußte auch alles gerecht verteilt werden, was da an guten Gaben zum Vorschein kam und herzhafte wie süße Düfte verbreitete.

Es wurde ein Weihnachtsabend wie aus dem Bilderbuch für die Menschen von Klein-Koddern. Der Kissehl blieb kalt - machte nuscht, der konnte ja aufgewärmt werden. Jetzt labte man sich an Spickgans und Schinken, die Schnapskruken gingen reihum. Die Kinder bekamen Marzipan und Zuckerzeug, das sie noch nie gegessen hatten. Sie glaubten fest, daß der Weihnachtsmann in dem Schlitten gesessen und den Sack vor ihre Türe gelegt hätte. Woher sollte er wohl sonst gekommen sein?

Nur der fromme Priemel dachte an ein Himmelswunder, und er sang laut und lange von all den guten Gaben, die von Gott, dem Herrn, kommen. Nur eine Frage konnte er auch nicht klären: Warum so viele Torfkrümel an den Speckseiten und Schinken klebten? Das war doch sehr irdisch!

Einsame Hütte im winterlichen Ostpreußen: Mischtechnik von Thea Weber