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03.01.04 / EU - der unbekannte Gesetzgeber

© Preußische Allgemeine Zeitung / 03. Januar 2004

Gedanken zur Zeit: 
EU - der unbekannte Gesetzgeber

Die Deutschen zahlen am meisten, wissen jedoch fast nichts über die Bedeutung Brüssels
von Wilfried Böhm

Das Scheitern des Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) und der Verhandlungen über eine europäische Verfassung kann sich als ein Glück für Europa herausstellen. Dann nämlich, wenn es endlich gelingt, die während des kalten Krieges entstandenen und damals notwendigen richtigen und schließlich erfolgreichen wirtschaftlichen, militärischen und politischen Strukturen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus insgesamt den neuen und ganz anders gearteten weltpolitischen Erfordernissen unseres Kontinents anzupassen.

Voraussetzung dafür ist, daß die historisch gewachsenen und heute demokratisch verfaßten Nationalstaaten endlich als das eigentlich "Europäische" an Europa erkannt und als dessen Grundlage anerkannt werden.

Voraussetzung dafür ist allerdings auch, daß die Aufmerksamkeit der Bevölkerungen für Europa und seine Institutionen endlich größer wird. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) veröffentlichte am 17. Dezember erschreckende Umfrageergebnisse, aus denen hervorgeht, daß 58 Prozent der Deutschen überhaupt noch nichts von einem europäischen Verfassungskonvent gehört hatten. Kein Wunder, daß auf die Frage, was die Zukunft Deutschlands am meisten beeinflußt und wovon es vor allem abhängt, daß Deutschland eine gute Zukunft hat, nur zehn Prozent der Befragten antworteten: "Von den Inhalten der zukünftigen europäischen Verfassung."

Ganze 14 Prozent sagten: "Von den Entscheidungen der Europäischen Kommission", und 15 Prozent: "Davon, daß die europäische Einigung vorankommt."

Die Kluft zwischen der europäischen Wirklichkeit und der Aufmerksamkeit der Bevölkerung dafür ist riesengroß, und der Verdacht liegt nahe, daß dieser Umstand vielen europäischen Polit-Akteuren gar nicht so unlieb ist, die es gern sehen, wie die EU-Kommission von ihrem Gestaltungsspielraum exzessiven Gebrauch macht. Die FAZ verweist darauf, daß sich die Zahl der Richtlinien, Verordnungen und anderen rechtswirksamen Entscheidungen der EU-Kommission in den letzten drei Jahrzehnten vervier-facht hat und für den Zeitraum von 1996 bis 2000 rund 11.400 rechtswirksame Beschlüsse gezählt wurden. Damit entscheidet die Kommission in Brüssel über weite Bereiche des wirtschaftlichen Lebens, über Wettbewerbs- und Industriepolitik, über Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutz und somit über das Schicksal ganzer Branchen. Kein Wunder, wenn die FAZ von einer "bizarren Unterschätzung der Europäischen Kommission" spricht und sich Sorgen macht um eine politische Kultur in Europa, in der diejenigen, die die Verantwortung tragen, nicht zur Verantwortung gezogen werden können, statt dessen aber die nationalen Regierungen vom Wähler "abgestraft" werden, obwohl sie als Gefangene im Netzwerk des organisierten europäischen Geschehens tatsächlich immer weniger frei gestalten können.

Die Tatsache, daß die nationalen Regierungen mehr und mehr erkennen müssen, daß ihr Schicksal letztlich vom Treiben der EU abhängig ist, hat bei ihnen eine neue Aufmerksamkeit auf deren Entwicklungen gelenkt. Der in der deutschen Politik zum Schlüsselwort gewordenen Begriff "Sparen" legt nahe, nicht mehr mit Spendierhosen in Europa aufzutreten. Wer den deutschen Rentnern, Kranken und Arbeitslosen in die Tasche greifen muß, dem bleibt nicht nur aus Gründen der Gerechtigkeit, sondern auch um des eigenen politischen Überlebens willen nichts anderes übrig, als auch in und an Europa zu sparen.

Der sogenannte Stabilitätspakt, die angebliche Grundlage für die Währungsunion, den Euro also, wurde ruck, zuck zu Makulatur. Seine Verletzung durch Deutschland ist besonders makaber. War doch versucht worden, mit diesem Pakt den Deutschen die Aufgabe ihrer DM schmackhaft zu machen. Sein Scheitern zeigt ebenso deutlich die neuen Realitäten in der EU auf, wie der Brief, den die deutsche Bundesregierung als mit Abstand größter Nettozahler in die EU-Kasse mit anderen Nettozahlern an die EU-Kommission geschickt hat. Diese nationalen Regierungen verlangen, die Ausgaben der EU in der kommenden Finanzperiode "auf dem gegenwärtigen Niveau zu halten". Das bedeutet, daß der 100-Milliarden-Euro-Kuchen, der bisher für 15 Mitgliedsstaaten zur Verfügung stand, in Zukunft nach der für 2004 beschlossenen Erweiterung für 25 Mitglieder reichen muß.

Dieses Verfahren träfe besonders Spanien und Polen, ausgerechnet die beiden Staaten, die unlängst die europäische Verfassung "auf Eis gelegt haben". Sind es doch die "stolzen Spanier", die sich seit langem mit deutschem Geld in der EU-Kasse gütlich getan haben, damit den Stabilitätspakt einhalten konnten und Deutschland nun besonders laut zur Stabilität ermahnen. "Erst die Oliven-Subventionen - dann die europäischen Visionen" war schon immer spanische Politik.

Und die Polen? Sie werden künftig die größten neuen Subventionsempfänger aus der hauptsächlich aus Deutschland gespeisten EU-Kasse sein. Ihr "Stolz" gebietet es ihnen aber - wie eine ihrer Brüsseler Journalistinnen sehr bestimmt erklärte -, "nicht weniger Stimmen zu haben als andere".

Die Finanznot im eigenen Land erzwingt ein Nachdenken über Europas Zukunft. Das ist nicht nur in Deutschland der Fall. Hinzu kommt die Zerstrittenheit der Europäer im Verhältnis zu den USA, besonders mit Blick auf den Krieg im Irak. Frankreichs Präsident Jacques Chirac bescheinigte den europäischen Beitrittsstaaten, die sich seinerzeit auf die Seite der USA gestellt hatten, "eine schlechte Erziehung", sehr zum Verdruß des Briten-Premiers Tony Blair, der die nach Chiracs Meinung ungezogenen Kinder zu ihrem Tun angestiftet hatte.

Europas Realität ist heute eine tiefe Zerstrittenheit. Wenn der deutsche Bundeskanzler und andere jetzt den Ausweg in einer Rückkehr zu einer Art "Kerneuropa" und damit zu einem "Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten" sehen, entfliehen sie in die Denkkategorien, die in der Zeit des kalten Krieges geboten und angesichts der kommunistischen Bedrohung mit abendländischer Ideologie verziert waren.

Die gegenwärtige Krise in Europa zwingt zu der Schlußfolgerung, daß mit diesem Europa kein "Staat" zu machen ist, jedenfalls kein Bundesstaat, wie Deutschland einer ist, aber vielleicht - und hoffentlich - ein Staatenbund, wie er der Geschichte der in demokratischen Staaten organisierten europäischen Völker entsprechen würde.

Konrad Adenauer formulierte in den 50er Jahren: "Ein guter Deutscher sein heißt guter Europäer sein", nicht ohne augenzwinkernd, aber unnachahmlich und nachdrücklich hinzuzufügen: "Und das gilt auch genau anders herum."