19.04.2024

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03.01.04 / Tante Hannas Hefte

© Preußische Allgemeine Zeitung / 03. Januar 2004

Tante Hannas Hefte
von Helga Steinberg

Unruhig wälzte sich Susanne in ihrem Bett, schob die dicke Daunendecke beiseite. Kleine Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. Ihr Kopf drehte sich heftig von einer Seite auf die andere, so als wollte sie einem Hindernis ausweichen. Ihre schmalen Finger krampften sich zusammen, da - plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper. Wie von einer gespannten Feder getrieben schnellte sie in eine sitzende Position. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie um sich. Wo war sie? Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich orientiert hatte. Ach ja, bei Tante Hanna, in dem alten Haus am Berg.

Susanne schwang die Beine aus dem Bett, reckte sich und schüttelte energisch ihre blonden Locken. Dieser Alptraum! Seit Tagen, nein seit Nächten natürlich wurde sie von ihm geplagt. Genauer gesagt, seit Weihnachten. Neun Tage, immer wieder aufs neue. Seltsam ...

Sie blickte sich in dem kargen Zimmerchen um: ein Schrank, ein Bett, eine Kommode. Die einzige Zier waren der bunte Flickenteppich und die fröhlich-bunten Gardinen, die so gar nicht zu den dunklen Möbeln passen wollten. Na ja, Tante Hanna war nicht reich gewesen, nicht reich an materiellen Dingen, reich aber an Herzenswärme, und die hatte sie ihre Großnichte Susanne immer wieder spüren lassen. So hatte sie ihr nicht nur das kleine Haus vererbt, auch Tagebuchaufzeichnungen hatte sie ihr hinterlassen. Erinnerungen an 90 Jahre Leben, an die Kindheit im fernen Ostpreußen, an die Jugend in schweren, entbehrungsreichen Zeiten, an Krieg und Flucht, an einen Neuanfang. Das alles hatte sie in vielen kleinen schwarzen Oktavheften mit ihrer klaren Handschrift festgehalten.

Susanne hatte immer wieder einmal in den Heften geschmökert, meist am Abend vor dem Schlafengehen. Da war sie denn auch auf den Hans gestoßen, Tante Hannas Liebsten. Erzählt hatte sie kaum von ihm, war gar wortkarg geworden, wenn Susanne neugierig gefragt hatte. Im letzten Winter des großen Krieges war er als vermißt gemeldet worden. Tante Hanna hatte nie wieder von ihm gehört. In den Tagen zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag aber war sie Jahr für Jahr besonders in sich gekehrt gewesen, hatte sogar in der Silvesternacht ein Gedeck für Hans mit aufgelegt, so als würde sie ihn erwarten.

Susanne hatte gesehen, wie die Hanna die Hände gefaltet und still gewartet hatte, während draußen die Feuerwerkskörper einen Heidenlärm machten, die Raketen den Himmel in farbiges Licht tauchten. "Der Wilde Jäger mit seinem Gefolge braust in den zwölf Nächten mit Hundegebell und Peitschenknall durch die Lüfte", hatte Susanne in Tante Hannas Heften gelesen. "Der Schimmelreiter, Ziegenbock, Storch und Erbsenbär ziehen von Haus zu Haus, um die Dämonen zu vertreiben ..."

Aber natürlich, der Schimmelreiter war's, der ihr in ihren Alpträumen keine Ruhe lassen wollte, der Bär, der sie bedrängte. Susanne seufzte: "Ach, Tante Hanna, hätte ich dich doch nur gefragt nach all diesen Dingen, jetzt ist's zu spät ..."