29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
17.01.04 / Deutschland - der kranke Mann Europas

© Preußische Allgemeine Zeitung / 17. Januar 2004

Gedanken zur Zeit: 
Deutschland - der kranke Mann Europas
von Wilfried Böhm

Deutschland ist der kranke Mann Europas geworden. Jahrzehntelange politische Fehlentwicklungen haben unser Land auf den letzten Platz der Wirtschaftsentwicklung abstürzen lassen. Das hat sich langsam herumgesprochen.

In dieser Lage stellt Hans-Werner Sinn, Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, in einem zu Recht viel-beachteten Buch (Econ Verlag, München 2003, geb., 25 Euro, zu beziehen über den Preußischen Mediendienst) die Frage: "Ist Deutschland noch zu retten?"

Auf 500 Seiten legt der Chef des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo) aus der Sicht eines überzeugten Marktwirtschaftlers eine eindrucksvolle Diagnose vor und entwickelt Therapien, mit denen dem Patienten wieder auf die Beine geholfen werden kann, wenn die allgemeine Bereitschaft dazu besteht.

In einer Art Rezeptbuch stellt Sinn sein "Sechs-Punkte-Programm für den Neuanfang" dar, dessen Überschriften plakativ sichtbar machen, worauf es ihm dabei ankommt:

"Kehrtwende bei den Tarifvereinbarungen", "Weniger Macht für die Gewerkschaften", "Weniger Geld für Nichtstun, mehr Geld für Jobs", "Den Zuwanderungsmagneten abschalten", "Eine wirklich radikale Steuerreform" und "Mehr Kinder, mehr Rente, mehr Fortschritt".

Bei diesem Programm ist es kein Wunder, daß Alt-BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel feststellt: "Endlich einmal ein Wirtschaftswissenschaftler, der Tacheles redet." Henkel wünscht sich das Sinn-Buch "auf den Schreibtisch aller Mitglieder des Bundeskabinetts und aller Mitglieder des Deutschen Bundestages", und Ministerpräsident a. D. Lothar Späth meint, Sinn zeige den Weg, fügt aber zweifelnd an: "Ob ihn die politische Klasse geht?" Genau damit legt Späth den Finger auf die Wunde der deutschen Politik: Fast alle wissen, was zu tun ist, aber keiner traut sich ...

Seinen Blick richtet Sinn auch auf die Europäische Union (EU). In sie eingebunden zu werden war bekanntlich für die Deutschen Traum, Wunsch und eine Art der Erlösung aus ihrer Geschichte, während andere den Binnenmarkt und den gemeinsamen Euro nüchtern und unter dem Gesichtspunkt des Re- chenstiftes und ihres nationalen Kalküls angingen. Mit der Überholung Deutschlands und der Abschaffung der D-Mark war die französische Strategie besonders er- folgreich. So hat die EU-Integration den meisten Ländern mehr finanzielle Vorteile gebracht, unserem Land aber die Rolle des weitaus größten Nettozahlers beschert.

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt von Maastricht war von Deutschland selbst gewollt, seine nunmehrige Verletzung ausgerechnet durch Deutschland wurde von den Partnern nicht ohne klammheimliche Schadenfreude zur Kenntnis genommen, ebenso wie die deutschen Nettozahlungen, die auf dem Umweg über Brüssel in die Kassen Spaniens, Griechenlands, Portugals und Irlands fließen.

Dem Blick in die europäische Zukunft im Zeichen der Osterweiterung widmet Sinn ein ganzes Kapitel unter der Überschrift: "Spiel ohne Grenzen: EU-Erweiterung, Migration und neue Verfassung".

Die Osterweiterung werde für die soziale Marktwirtschaft in Deutschland die zweite große Herausforderung nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit im Jahr 1990 sein. Da die Europäische Union derzeit nicht mehr als ein lockerer Staatenbund sei, der seine Politik den neuen Mitgliedsstaaten gegenüber nicht in dem Maß durchzusetzen in der Lage sei wie West-Deutschland seinerzeit gegenüber der DDR, lägen allerdings gänzlich andere Voraussetzungen vor als 1990. Damals mußten der westdeutsche Sozialstaat und die Lohnangleichungen als Folge des Beitritts der DDR auf diese übertragen werden.

Abgesehen davon, daß der deutsche Beitrag in die EU-Kassen durch die Osterweiterung jährlich um etwa 2,4 Milliarden Euro steigen wird, sieht Sinn weitere Probleme der Osterweiterung für Deutschland beim Arbeitsmarkt und den möglichen Standortverlagerungen der deutschen Industrie. Die Lohnkosten in der alten Bundesrepublik lägen sechsmal so hoch wie die polnischen. Das könne die Flucht des deutschen Mittelstandes beschleunigen und einen erheblichen Wanderungsdruck von Osteuropäern auslösen, die im Westen ihr Glück suchen.

Deutschland werde schon aus geographischen Gründen das Hauptziel der Wanderung sein. Unter der Voraussetzung, daß die Politik diese Wanderungen nicht wirksam bremst, rechnet Sinn damit, daß in den nächsten 15 Jahren 2,5 Millionen Menschen nach Deutschland kommen werden. Dabei ist es für Sinn völlig verständlich, wenn jemand aus ökonomischen Gründen in ein anderes Land wandert, aber man könne die egalisierende Lohnpolitik, den Ausbau des Sozialstaates in Form des Lohnersatzsystems und die Massenimmigration nicht gleichzeitig haben. Deshalb müsse Deutschland seine institutionellen Verhältnisse ändern, damit es die Zuwanderung aus den neuen EU-Staaten verkraften und die grundsätzlichen Wohlfahrtsgewinne tatsächlich realisieren kann.

Nachdrücklich setzt sich Sinn dafür ein, die Europäische Verfassung so zu gestalten, daß sie nicht auf eine europäische Sozialunion ausgerichtet ist. Dann könnte das gleiche geschehen, was nach der deutschen Vereinigung in Deutschland geschehen ist, und damit wäre die deutsche Volkswirtschaft über das Maß des Möglichen strapaziert.

Deshalb fordert Sinn ein System der "verzögerten Integration", in dem Leistungen wie das Wohngeld, die Sozialhilfe, das Kindergeld für im Ausland verbliebene Kinder oder die Möglichkeit zum Bezug von Sozialwohnungen für Zuwanderer eingeschränkt werden. Die Bundesrepublik Deutschland sollte ihre Zustimmung zu einer Europäischen Verfassung sorgfältiger bedenken als bisherige Entscheidungen auf dem Weg zur europäischen Integration.

Die Macht der Arroganz und die Arroganz der Macht

Vier Tage lang hatte Altkanzler Helmut Kohl den beiden ARD-Interviewern Michael Rutz und Stephan Lamby Rede und Antwort gestanden; daraus resultierten zweimal 45 Minuten Sendezeit. Dies war denn auch das wesentliche Resultat - ansonsten erfuhr man kaum etwas, was man nicht vorher auch schon gewußt hätte: daß Kohl die Süßmuth und den Geißler, den Blüm und den Schäuble nicht mag, den von Weizsäcker erst recht nicht, sich selber aber umso mehr. Seine historische Bedeutung wähnt er nicht angemessen gewürdigt, zumindest nicht im eigenen Lande, also ergänzt er gänzlich unbescheiden die Lobpreisungen seitens diverser amerikanischer Ex-Präsidenten.

Eher indirekt vermittelte das zweiteilige Kanzlerporträt Einblicke in das "System Kohl" und seine Funktionsweise: selbstgefällige Arroganz als Mittel der Machtgewinnung - und daraus resultierend eine Machtfülle, aus der sich diese Arroganz immer aufs neue nährt. Deutlich wurde dies stets, wenn Kohl auf einstige Weggefährten zu sprechen kam, die längst zu Parteifeinden geworden sind. Sicher: Was er an Süßmuth oder von Weizsäcker auszusetzen hat, läßt sich aus konservativer Sicht in der Sache gut nachvollziehen. Aber: Wer eigentlich hat diese merkwürdigen Figuren groß gemacht? War es nicht Kohl, der hohe Staats- und Parteiämter immer wieder selbstherrlich mit den falschen Leuten besetzt hat - reihenweise personelle Fehlgriffe, nicht obwohl, sondern gerade weil er so mächtig war? Solche Fragen will er sich gar nicht erst gefallen lassen; werden sie dennoch gestellt, reagiert er unwillig und arrogant ("Ich habe nicht die Absicht ...").

Wenn schon der Interviewte selber es vorzieht, über fast alles zu reden und dabei fast nichts zu sagen, werden die Äußerungen von Zeitzeugen jenseits des eigenen politischen Lagers umso interessanter. Dies gilt nicht zuletzt für PDS-Star Gysi, wenngleich der natürlich die Gelegenheit nutzte, seine Eloquenz vor allem zum Zwekke der Selbstbeweihräucherung aufblitzen zu lassen. Den stärksten Eindruck hinterließ hier Oskar Lafontaine, Kohls Gegenkandidat bei der Wahl 1990: kritisch, aber fair.

Nichts Neues auch zur Spendenaffäre: Stur bleibt der Altkanzler bei seinem Ehrenwort, läßt sich allenfalls entlocken, es seien "vier oder fünf" Spender gewesen - so genau wollten wir es immer schon wissen!

Lediglich der Schluß des TV-Zweiteilers entzieht sich jeglicher Kritik. Leben, Leiden und Sterben Hannelore Kohls und die Art, wie Helmut Kohl damit umging und umgeht - das hat nichts zu tun mit der Darstellung und Bewertung des Machtmenschen Kohl. Wenigstens in dieser menschlichen Dimension zeigte sich ein Rest von parteiübergreifendem Konsens. H.J.M.

Fühlt sich ungeliebt und mißverstanden: Altkanzler Helmut Kohl Foto: ARD