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17.01.04 / "Wo liegt denn Sowjetsk?"

© Preußische Allgemeine Zeitung / 17. Januar 2004

"Wo liegt denn Sowjetsk?"
von Wolfgang Werda

Reisen, fast glaube ich es, sind mein Schicksal; die gewollten, die ungewollten - und die geplatzten ... Urd, Werdandi und Skuld, jene drei sagenumwobenen Schwestern, Göttertöchter der Germanen, mögen an meiner Wiege Pate gestanden und mir das Reisen auf den Lebensweg mitgegeben haben ...

Meine allererste Reise machte ich noch vor der Geburt, im Leib der Mutter. Sie führte direkt in die Stadt Tilsit am Memelstrom. Dort hatte der Vater seine erste Stelle als Ingenieur angetreten. So kam es, daß ich an einem frostklaren Februartag um 9 Uhr 30 in der elterlichen Wohnung in Tilsit am Schenkendorfplatz das Licht der Welt erblickte.

Jahre, Jahrzehnte sind seit damals vergangen - Frieden, Krieg, der Tod der Eltern, das Ende im Chaos; alles liegt so weit zurück; die Kindheit, die Jugend ... Der spätere Beruf, das Reisen, mein Wanderleben haben mich vieles vergessen lassen. Als ganz kleines Kind verließ ich mit den Eltern meine Geburtsstadt. Ich habe Tilsit nicht mehr gesehen. Ich kenne diese Stadt nicht.

Ein Auftrag erreicht mich: "Fliegen Sie nach Riga ..." Ich soll einen sowjetischen Minister, der als Rohstoffbeauftragter auch für den Bernsteinabbau im Samland zuständig ist, interviewen. Eilig treffe ich die Reisevorbereitungen; Telefonate, Papiere ordnen, das Visum, Dokumente. Ich werfe einen Blick in meinen Paß, geboren in Tilsit ...

"Das heißt jetzt Sowjetsk!" belehrte mich der Konsulatsbeamte. "Sie verstehen?" - "Ich verstehe ..." - "Na ja", sagt er, "Glasnost hin, Perestroika her, Sowjetsk ist und bleibt eine russische Stadt. Sie wissen, der Krieg ..." Ich nick-te. "Ich weiß, der Krieg ..."

Ja, der Krieg. Erinnerungen werden in mir wach ... Ein dunkler Film läuft ab in meinem Kopf. An dessen Ende sehe ich mich als kleinen Jungen mit der Großmutter und der Schwester, die noch ein Baby ist, in einem Güterzug - an der Decke des Waggons klappern Fleischerhaken - durch eine winterliche Ruinenlandschaft fahren. Durch einen Türschlitz fällt unser Blick auf die trostlose Außenwelt.

Ich frage: "Oma, wo sind wir?"

Und die Großmutter antwortet leise: "Das ist unsere Hauptstadt Berlin, mein Junge ..."

Da lag die Mutter längst in einem Sarg, den Oma für die junge Tochter aus einem morschen Schrank gezimmert hatte - auf dem katholischen Friedhof in Heilsberg.

Zwei Sommer davor lebte Mutter noch. Ich erinnere mich daran, daß zu dieser Zeit Kriegsgefangene gegenüber von unserem Haus einen Bunker ausbuddelten. Das Baugelände war von einem Drahtverhau eingezäunt. Ältere Männer in Uniform, Landwehrsoldaten, standen davor Wache. Wir Kinder der Nachbarschaft - es war Sommer - spielten auf der Wiese vor der Baustelle. Manchmal beobachteten Mutter und ich, hinter der Gardine am Fenster, die zerlumpten Gestalten.

"Es sind Menschen. Sie haben Hunger", sagte die Mutter eines Tages. Sie wickelte belegte Stullen, gekochte Kartoffeln und etwas Salz in Zeitungspapier und schickte mich zu den Männern in der Baukuhle: "Wirf den Packen über den Zaun ..."

Ich tat wie geheißen. In hohem Bogen flog das Päckchen über den Drahtverhau. Er landete vor den Füßen eines Gefangenen. Der hob das Bündel auf und verbarg es rasch unter seiner Kleidung. Ich lief zurück ins Haus zur Mutter. Sie nahm mich in die Arme und sagte nur: "Vielleicht lebt Rudolf noch ..."

Doch Rudolf, mein Vater, war tot. Stalingrad.

Endlich bekomme ich das Visum. Ich freue mich auf die Reise, auf Riga, die Stadt an der Düna; einst war sie eine Perle der Hanse. Ihren Namen durfte die Stadt behalten, das Ländchen aber, dessen Hauptstadt sie nun ist, heißt Sozialistische Sowjetrepublik Lettland. Noch herrschen fremde Herren im Land. Doch eine neue Zeit kündigt sich an; in ihrer Morgenröte kratzen europäisch fühlende Menschen die kyrillischen Schriftzeichen von den Schaufenstern. Bei meiner Ankunft begegnet mir eine stille, verschmitzte Lebensfreude. Die Stimmung steckt mich an. Riga hat mich gepackt. Sind es die Menschen? Ist es dieses unvergleichliche Licht des Nordens? Oder die Landschaft? Ich weiß es nicht ... Plötzlich huscht wie ein Zauber ein Gedanke durch meinen Kopf: Tilsit ... Wie weit mag es bis Tilsit sein?

Ich verdränge den Gedanken ... Ich war zum Arbeiten nach Riga gekommen. In wenigen Stunden sollte ich mich zu einem Interview mit dem russischen Außenhandelsminister Abrassimow in Riga einfinden. Keine Zeit für dumme Gedanken. Ein Sowjetminister wartet nicht auf einen kleinen Schreiber aus Deutschland.

Ich werde zur Fahrt nach Jurmala abgeholt. Ein blasser Handelsattaché begleitet mich. Eine junge Frau in Uniform lenkt die Limousine. Als "Leutnant Carola" stellt sie sich vor, in akzentfreiem Deutsch fügt sie hinzu: "Wie sagt man in Ihrer Sprache?" Sie kichert. "Ich bin Ihre Bodyguard. Ich werde gut auf Sie aufpassen!"

Das Seebad Jurmala liegt am tiefsten Landeinschnitt der Bucht von Riga. Wortlos geht die Fahrt durch endlose Kiefernwälder, immer eine wie mit dem Lineal gezogene Chaussee entlang. An einem Schlagbaum müssen wir halten. Ein Milizposten kontrolliert vor der Weiterfahrt die Papiere. Ich bin erstaunt: Mitten im Land eine Militärkontrolle? Unsere uniformierte Begleiterin spürt meine Irritation. Sie lächelt mich an. "Jurmala liegt in einer Sonderzone, wissen Sie ..."

"So wie Sowjetsk?" frage ich scheinheilig.

"Genau wie Tilsit", antwortet sie auf deutsch. Erneut schenkt sie mir ein Lächeln.

Sie hat Bernsteinaugen, denke ich - und sage es ihr. "Ich verstehe", sagt sie. "Bernstein. Sie denken gewiß an Ihr Interview mit dem Genossen Minister. Er ist Vorsitzender unserer Bernsteinkommission ..."

"Gewiß", erwidere ich, ihren Tonfall nachahmend. Und ich denke: Nichts verstehst du. Gar nichts ...

Schweigend fahren wir über die Landstraße. Manchmal treffen sich Carolas Blicke mit den meinen wie zufällig im Rückspiegel. Bei der nächsten Begegnung unserer Blicke sagt sie: "Riechen Sie die nahe See?" Ich antworte nicht sofort. Ich lege mich zurück und atme in tiefen Zügen die frische Luft, die der Fahrtwind in den Wagen bläst. Ja, ich rieche die See ...

Jetzt! Frag sie. Los, befiehlt meine innere Stimme. Soll ich? Ich tu's. "Wo liegt eigentlich Sowjetsk, Leutnant?"

Im Fahrerrückspiegel sucht sie meinen Blick. Kühl sagt sie: "Von hier aus gesehen südwestlich. Fast auf dem 22. Längengrad."

Fast hatten wir Jurmala erreicht, als sie plötzlich fragt: "Was interessiert Sie so an dieser Stadt?" Jetzt werde ich sie belügen, denke ich. Und dann lüge ich: "Nichts interessiert mich daran. Nichts, wissen Sie ..."

Carola sagt nichts. Ihre Augen sprechen: Du lügst, Freundchen. Und wie du lügst. Ich weiche ihrem Blick nicht aus. Als sie den Wagen endlich anhält, sage ich: "Tilsit - was sollte mich daran interessieren? Nur, daß ich dort geboren bin." Ich sage es einfach so dahin. Es sollte gleichgültig klingen. Wir waren in Jurmala angekommen.

Die Arbeit ist getan. Carola und ich treffen uns in Riga. In Leutnantuniform steht sie vor mir.

"Du willst immer noch Tilsit sehen?"

Ich weiß, Tilsit gehört zur Kaliningrader Oblast, Königsberger Sonderbezirk. Kein Westler darf dorthin. Mein Herz klopft.

"Ich will!"

"Gut. Dann soll es so sein. Ich werde fliegen!" sagt sie militärisch kurz.

Wir starten mit einem alten Helikopter. Wir fliegen allein.

"Leichter Seitenwind. 90 Minuten bis Tilsit!" höre ich sie über Bordfunk sagen. "Du mußt dich anschnallen, Jan."

Leise hat sich das Du zwischen uns eingeschlichen.

Unser Flug folgt der Küste. Unter uns fließt der Dünastrom dem Meer zu. In der Bucht von Riga verschwinden die Wassermassen in der Ostsee. Rasch wechseln die Landschaftsbilder; lange Waldstreifen, grüne Senken mit Wassertümpeln wie blaue Farbtupfer, lichte Felder, kleinere und grö- ßere Ortschaften ... ich sehe das Land unter uns wie durch einen Schleier. Bilder, Geräusche, das Geschehene selbst bewegen sich im Zeitraffer durch meine Erinnerung. Träume ich?

Carolas Stimme meldet sich im Kopfhörer. "Du mußt aufwachen, Jan. Gleich werden wir die Memel überfliegen und Tilsit sehen. Dein Tilsit."

"Ach, Carola", sage ich, so leise, daß sie es nicht hören kann. "Ich habe nicht geschlafen ..."

Nein, das hatte ich nicht. Meine Sinne waren nur für eine kurze Zeit andere Wege gegangen. Jetzt hatte mich die Wirklichkeit wieder. Und diese Wirklichkeit bestand aus einem von Windböen geschüttelten Helikopter, in dem ich, mit einem weiblichen Leutnant der Roten Armee als Pilotin, am Himmel über der Memel hing.

Über dem Strom spannte sich eine geschwungene eiserne Brückenkonstruktion. Ein Stück weiter erkannte ich die Eisenbahnüberführung. Auf der Königin-Luise-Brücke, Landverbindung zwischen Tilsit und Übermemel, bewegten sich Menschenzwerge von hüben nach drüben - in beide Richtungen ...

Gegen das Mittagslicht wirkten sie wie lebendige Scherenschnitte. Schiffe fuhren auf der Memel umher, andere lagen behäbig an der Reede. Aus der alten Zellstoff-Fabrik zog eine weißliche Schlotfahne ins Land. Die Bänder der Wege, Straßen und Chausseen verknüpften sich zu Knoten und lösten sich wieder. In einem Park blitzte das blanke Auge eines Gewässers. Das mußte der Stadtmühlenteich sein. Hurtig huschte der Libellenschatten der Flugmaschine über dicht bebaute Wohnquartiere, Reihenhäuser und Flachbauten und über ein paar versprengte rote Ziegeldächer hinweg. Ein Kirchturm überragte an einem ovalen Platz das Häusermeer; Carola zog einen Bogen. Dort, der freie Flek-ken, die Kirche ziemlich dicht am Ufer, das war wohl das Karree des Schenkendorfplatzes. Der alte Tilsiter Stadtplan auf meinen Knien half mir bei der Orientierung.

"Geh tiefer, Carola!" bat ich. Die Pilotin reagierte nicht. Sie hielt die Höhe. Ich deutete mit dem Daumen nach unten. "Meine Stadt! Ich will sie sehen ..."

Hart klang ihr Nein im Kopfhörer. "Wir haben keine Landeerlaubnis ..." - "Bitte, Carola!" - "Nein!" Sollte ich es noch einmal probieren? Was lag mir an der Stadt? Ich war hier geboren. Mehr nicht. Nur einen Blick noch - auf den Ort meiner Geburt und der kurzen Zeit meines Daseins unter diesen Dächern. Ade - mein Tilsit ...

Ich gab Carola ein Zeichen. "Flieg zurück!" In einem großen Rechtsbogen zog sie die Maschine über die Landzunge des Haffs zum Heimflug. Wir flogen jetzt mit dem Wind. Über Litauen quakte und rauschte der Sprechfunk. Zwischen den russischen Wortfetzen hörte ich Carolas Stimme fragen: "Was denkst du, Jan?"

"Was ich denke?" Ich überlegte eine Weile. Dann sagte ich: "Nichts ... ich denke nichts."

Über der Memel: Blick auf die Luisenbrücke Foto: Archiv

Weites Land: Von fern grüßen die Türme von Tilsit Foto: Teschke