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24.01.04 / Einladung in den Winter

© Preußische Allgemeine Zeitung / 24. Januar 2004

Einladung in den Winter
von Renate Dopatka 

Über Nacht hatte Tauwetter eingesetzt. Als Gertraud schlaftrunken die Vorhänge beiseite schob, blickte sie auf Pfützen und schmutzigbraune Schneereste, wo es tags zuvor noch blendendweiß geglitzert hatte. Kopfschüttelnd warf sie sich den Hausmantel über und tappte ins Bad. Was nützte der schönste Schneefall, wenn schon am nächsten Morgen nichts mehr davon übrig war? Sicher, manch einer mochte es als großes Glück empfinden, in einer Gegend ansässig zu sein, in der milde Winter fast die Regel waren. Schnee schippen und vereiste Autoschlösser auftauen - davon blieb man hier verschont. Selbst wenn die Kälte doch mal einen Vorstoß wagte und es tatsächlich mehrere Stunden lang weiß vom Himmel rieselte, konnte man sicher sein, daß der rasch wieder auf West drehende Wind diesem ungewöhnlichen Treiben ein baldiges Ende bereitete. So auch jetzt. Wie hatte sie nur so dumm sein können, zu glauben, der gestrige Schneefall werde ihr doch noch einen richtigen Winter bescheren! 

Einen Winter, der zwar nie die Vollkommenheit ostpreußischer Schneenächte besitzen würde, der aber zumindest einen Abglanz längst vergangener Seligkeiten aufschimmern ließ .... Während Gertraud ohne rechten Appetit an ihrem Frühstücksbrot kaute, kehrten ihre Gedanken immer wieder ins heimatliche Mohrungen zurück. Vielleicht hatte es auch dort dann und wann schneelose Winter gegeben, vielleicht war der Blick zurück immer ein verklärter - trotzdem war sich Gertraud eigentlich ziemlich sicher, kein Jahr ohne Schlittschuhlaufen auf dem Schertingsee verlebt zu haben. Ganze Nachmittage hatte sie mit Irmchen, ihrer besten Freundin, auf der zerfurchten Eisfläche zugebracht. Viel zu schnell flogen die Stunden dahin. 

Noch heute erinnerte sie sich deutlich des kleinen schmerzhaften Stiches, des Anflugs von Wehmut, den sie jedesmal verspürt hatte, wenn erneut ein schöner, unbeschwerter Tag zu Ende ging und das Städtchen in rotem Abenddämmer versank. Mit zittriger Hand stellte Gertraud ihre Kaffeetasse ab. Wie gut, daß ihr, der Geschwisterlosen, wenigstens Irmchen geblieben war! Jahre nach Kriegsende hatten sie sich wiedergefunden. Während sie selbst aus beruflichen Gründen an der Weinstraße gelandet war, hatte Irmchen in den tiefsten Schwarzwald hineingeheiratet. Jede führte ihr eigenes Leben, besaß eigene Freunde und Bekannte, und doch verging kaum eine Woche, ohne daß die eine der anderen nicht ein Lebenszeichen von sich sandte. 

Man telefonierte miteinander, tauschte Neuigkeiten aus und wärmte sich an alten Geschichten. Geschichten, die untrennbar mit der Heimat verbunden waren. Der Kaffee schmeckte plötzlich bitter in ihrem Mund. Angewidert räumte Gertraud das Geschirr in die Spüle und ließ heißes Wasser ein. Irgendwie war sie heute nicht gut drauf. Vielleicht lag's am Wetterumschwung, an der zerplatzten Hoffnung auf einen Winter wie zu Hause, jedenfalls fühlte sie sich an diesem Morgen so schlapp und lustlos wie schon lange nicht. 

Von der Gartenpforte her ertönte in diesem Moment metallisches Klappern. Ein Geräusch, das Gertraud verriet, daß der Postbote seine morgendliche Runde drehte. "Nu, was wird er schon bringen?" murmelte sie verdrießlich vor sich hin. "Werbung natürlich, wie immer ..." Doch als sie auf dem Weg zum Einkaufen in den Briefkasten schaute, machte ihr Herz einen freudigen Sprung. Irmchen hatte geschrieben! Das kam bei ihr so selten vor, daß der Brief eine ganz besondere Mitteilung enthalten mußte. Und so war es auch. Auf feinstem Büttenpapier stand da zu lesen, daß Irmchen und ihr Mann demnächst auf runde 50 Jahre Eheleben zurückblicken konnten, und sie, Gertraud, war zur Feier dieses Ereignisses herzlich eingeladen! Eine Reise in den Schwarzwald! Natürlich war sie schon viele Male bei der Freundin zu Besuch gewesen. 

Zur Winterzeit hatte sie den in einem idyllischen Hochtal gelegenen Ort jedoch noch nie erlebt. Abends, als auch der letzte Schnee vom Bürgersteig getaut war und laue Winde ums Haus wehten, griff Gertraud zum Telefonhörer, um sich für die Einladung zu bedanken. Es gab wie immer viel zu erzählen, doch die Frage, die ihr seit Eintreffen des Briefes am Herzen lag, stellte Gertraud erst ganz zum Schluß: "Sag mal, liegt bei euch eigentlich noch Schnee?" "Ach, Traudchen, wir ersticken förmlich in Schnee!" hörte sie die Freundin seufzen. "Wenn du dir die Berge und Tannen wegdenkst, könntest du glauben, du bist in Ostpreußen! Manchmal liegt sogar im Mai noch Schnee vor der Haustür! Warum fragst du? Fürchtest du etwa den Winter?" "Fürchten?" lächelte Gertraud versonnen vor sich hin. "Im Gegenteil. Ganz im Gegenteil ..." 

Cranz im Winter: Eis und Schnee verzauberten diesen Küstenstrich Foto: Archiv