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24.01.04 / Scharfe Kritik an der eigenen Partei / SPD-kritische Exil-Schriften des Sozialdemokraten und einstigen Reichsministerpräsidenten Scheidemann veröffentlicht

© Preußische Allgemeine Zeitung / 24. Januar 2004

Scharfe Kritik an der eigenen Partei
SPD-kritische Exil-Schriften des Sozialdemokraten und einstigen Reichsministerpräsidenten Scheidemann veröffentlicht 

Eigentlich müßte der Name Philipp Scheidemann heute noch im Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit präsent sein, stand doch dieser sozialdemokratische Politiker an zwei entscheidenden Wendepunkten deutscher Politik im 20. Jahrhundert an bestimmender Stelle. Scheidemann, damals 51jähriger Staatssekretär in der Reichsregierung, rief am 9. November 1918 ohne Wissen und gegen den Willen Friedrich Eberts in Berlin die Republik aus - wie er sagte, um der drohenden Ausrufung einer kommunistischen Republik zuvorzukommen. Er wurde dann erster Reichsministerpräsident - so die damalige Bezeichnung - der demokratischen Nachkriegsregierung. Aber schon im Juni 1919 trat er von seinem Amt zurück, weil er die harten Bedingungen des Versailler Diktates nicht akzeptieren wollte. Daß er heute im allgemeinen Bewußtsein keine Rolle mehr spielt, mag darin begründet liegen, daß er nach 1920 nicht mehr in leitenden Positionen in Erscheinung trat und daß er in der SPD nicht wohlgelitten war. Jedenfalls erhielt er, der 1933 zunächst in die Tschechoslowakei, dann nach Dänemark emigriert war, aus dem, wie er schrieb, wohlgefüllten Topf der ins Ausland geretteten SPD-Gelder im Gegensatz zu anderen sozialdemokratischen Ex-Funktionären keine Zuwendungen, was ihn zu bitteren Artikeln über seine Parteifreunde veranlaßte. Er warf ihnen ein zweimaliges gravierendes politisches Versagen vor. 

Heftig kritisierte er den verstorbenen Reichspräsidenten Ebert, der Ende des Ersten Weltkrieges das Bündnis mit der Obersten Heeresleitung einging, um die gewaltsame Übernahme der Regierungsmacht durch die kommunistischen Kräfte zu verhindern. Nach Scheidemann hätte man keinerlei Kompromisse mit den alten Kräften eingehen dürfen, sondern zunächst ganz Deutschland sozialisieren müssen. 

Der zweite Vorwurf: Auch 1933 habe es die SPD-Führung an Entscheidungskraft fehlen lassen. Nachdem sie jahrelang behauptet hatte, im Falle einer nationalsozialistischen Machtübernahme brauche sie nur "auf den Knopf zu drücken", um die gewerkschaftlich organisierten Massen zum Generalstreik und damit zum Sturz einer NS-Regierung zu bewegen, zerbröckelte die Partei 1933. Das "ruhmlose Ende der SPD" sei das Ergebnis gewesen. Scheidemann verhöhnt den Fraktionsvorsitzenden der SPD im Reichstag, Otto Wels, der getönt hatte: "Wenn die Diktatur sein muß, dann wollen wir sie aus-üben!", und der doch nichts getan hatte, um die Massen zu revolutionieren. Offenbar war im Ausland Scheidemanns Einfluß dahin. Seine Warnungen vor der nationalsozialistisch bestimmten Reichsregierung, die wie er meinte, den Krieg wollte, verhallten ungehört. Der Band mit den nachgelassenen Papieren enthält im vollen Wortlaut die Rede, die Philipp Scheidemann als Reichsministerpräsident im Mai 1919 vor der Nationalversammlung in der Berliner Universität gehalten hat, als es um die Frage ging, ob Deutschland den von den Siegermächten diktierten Friedensvertrag annehmen solle. Sie sei vor allem jenen zur Lektüre empfohlen, die heute jeden als rechtsradikal diffamieren, der diesen Vertrag ein "Diktat" nennt. Daß er ein Diktat war, darin waren sich damals alle deutschen Parteien von rechts bis links einig. Scheidemann nannte in seiner Rede den Vertrag den "schauerlichsten und mörderischsten Hexenhammer, mit dem einem großen Volk das Bekenntnis der eigenen Unwürdigkeit, die Zustimmung zur erbarmungslosen Zerstückelung, das Einverständnis mit Versklavung und Helotentum abgepreßt und erpreßt werden soll." Und er fragte die Abgeordneten: "Wer kann als ehrlicher Mann, ich will gar nicht sagen, als Deutscher, nur als ehrlicher, vertragstreuer Mann solche Bedingungen eingehen? Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?" Unter lebhaftem Beifall rief er aus: "Dieser Vertrag ist nach Auffassung der Reichsregierung unannehmbar!" 

Das Protokoll verzeichnete "minutenlangen brausenden Beifall im Hause und auf den Tribünen". Und in diesen Beifall rief Scheidemann, es werde "aus Millionen und aber Millionen Kehlen aus allen Ländern, ohne Unterschied der Parteien, der Ruf erschallen: ‚Weg mit diesem Mordplan!'" Sein Glaube an die internationale Solidarität war eine Illusion, wie sich rasch herausstellte. Nach Scheidemanns Rücktritt unterschrieb dann die sozialdemokratisch geführte Reichsregierung das Friedensdiktat. Aufschlußreich die Mitteilung des Herausgebers, daß nach Ende des Zweiten Weltkrieges die sozialdemokratische Parteispitze das Erscheinen dieser nachgelassenen Papiere des 1939 in Kopenhagen verstorbenen ehemaligen SPD-Spitzenpolitikers verhindert hat. Das ist nicht unwahrscheinlich, geschah doch Gleiches Mitte der 60er Jahre, als ein wissenschaftlicher Verlag die Aufzeichnungen des früheren sozialdemokratischen Wehrministers Gustav Noske, in denen die SPD-Führung eine erbärmliche Rolle spielt, neu und wissenschaftlich kommentiert herausbringen wollte. 

Für einen speziell an der deutschen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts interessierten Leser ist die Lektüre durchaus ein Gewinn. Philipp Scheidemann: Die vom einstigen Reichsministerpräsidenten im politischen Exil verfaßten Schriften sind von Frank R. Reitzle unter dem Titel "Philipp Scheidemann, Das historische Versagen der SPD. Schriften aus dem Exil" im Lüneburger zu Klampen Verlag herausgegeben worden. Das gebundene und mit einem Schutzumschlag versehene Werk ist 236 Seiten stark, enthält fünf Fotos und ist unter anderem beim PMD für 19,80 Euro zu erstehen. Foto: dhm