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07.02.04 / "Auf Kollisionskurs zu Karlsruhe" / Ein Gespräch über die Berliner Reformpolitik mit dem Sozialrichter Jürgen Borchert

© Preußische Allgemeine Zeitung / 07. Februar 2004

"Auf Kollisionskurs zu Karlsruhe"
Ein Gespräch über die Berliner Reformpolitik mit dem Sozialrichter Jürgen Borchert

Der Darmstädter Sozialrichter Jürgen Borchert hat sich als juristischer Berater mehrerer Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht sowie als Publizist mit scharfer Zunge, der sich seit Jahren für Leistungsgerechtigkeit für Familien einsetzt, bundesweit einen Namen gemacht. Er ist in den Parteien wegen seiner Unabhängigkeit ebenso geachtet wie gefürchtet. Über das Hin und Her bei der Pflegeversicherung sprach er mit unserem Mitarbeiter Jürgen Liminski.

PAZ: Herr Borchert, wird mit der geplanten Reform der Pflege nicht ein Auftrag des Bundesverfassungsgerichts erfüllt?

Borchert: Bundeskanzler Gerhard Schröder wollte mit seiner Intervention in Sachen Pflegereform offensichtlich mit Rücksicht auf das Wahljahr 2004 ein Konfliktthema vorerst unter den Teppich kehren. Nun soll nur der Verfassungsauftrag aus dem "Pflegeurteil" des Bundesverfassungsgerichts vom 3. April 2001 erfüllt werden. Die Rede ist von einem Freibetrag in Höhe von 50 Euro je Kind und Monat, was bei dem Beitragssatz von 1,7 Prozent einer effektiven Entlastung von 85 Cents entspräche. Die Richter in Karlsruhe müssen dies - vollkommen zu Recht! - als Provokation begreifen. Damit geht Berlin auf Kollisionskurs zu Karlsruhe.

PAZ: Gilt das auch für andere Bereiche der Sozialsysteme, zu denen Karlsruhe sich geäußert hat?

Borchert: Und ob. Schon in früheren Urteilen mahnte Karlsruhe die Politik, sich ernsthaft um die Rente zu kümmern. Aber erst recht im "Pflegeurteil" gaben die Richter den gesetzgebenden Mehrheiten auf, die Bedeutung der Entscheidung auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen. Deshalb könnte dieser jüngste Versuch des Kanzlers nach hinten losgehen, denn mittlerweile liegen dem Gericht drei Verfassungsbeschwerden zur Rentenproblematik vor; eine weitere betreffend die Gesetzliche Krankenversicherung folgt in Kürze. Damit hat das Gericht jederzeit die Möglichkeit, die Frage der Familiengerechtigkeit der Sozialversicherung insgesamt wieder auf die Tagesordnung zu setzen - und zwar in einer ungleich größeren Dimension.

PAZ: Es ist noch offen, ob die Entlastung durch einen steuerlichen Freibetrag oder durch einen geringeren Beitrag erreicht werden soll. Andererseits soll es keine weitere Belastung mehr geben, auch für Kinderlose nicht. Bleibt hier nicht nur die Lösung über die Steuer?

Borchert: Die Bundesregierung fährt sich mit ihren eigenen Vorgaben fest. Tatsache ist: Im "Pflegeurteil" hat das Gericht festgestellt, daß die Kindererziehung in den umlagefinanzierten Systemen der Altersversorgung konstitutive Bedeutung für die Funktionsfähigkeit des Systems hat. Die in ihrer großen Mehrheit hochaltrigen Pflegebedürftigen sind auf die Beiträge der Nachwuchsgeneration angewiesen. Während Eltern aber wegen der Kinder Konsumverzicht übten, so das Gericht, erwüchsen Kinderlosen entsprechende Einkommensvorteile. Dies verstoße gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Gebot der Familienförderung aus Art. 6 Abs. 1 GG. Der zwischen Eltern und Kinderlosen vorzunehmende Ausgleich müsse durch Regelungen erfolgen, welche die Elterngeneration während der Erziehungs- und Erwerbsphase entlasteten. Die Korrektur habe deshalb auf der Beitragsseite stattzufinden und müsse zum 31. Dezember 2004 abgeschlossen sein. Wie die Lösung konkret aussehen soll, hat das Gericht - wie immer - offen gelassen. Die Festlegung auf die Beitragsseite und die Verwendung steuertypischer Begriffe in den Entscheidungsgründen legt jedoch für die Pflegeversicherung den Abzug von Kinderfreibeträgen vom Bemessungsentgelt nahe ("Wink mit dem Zaunpfahl"). Mindestens die anerkannten Existenzminima für Kinder sind dabei anzusetzen, alles andere wäre ersichtlich willkürlich und würde unweigerlich sofort eine Klagewelle von Abertausenden Familien zur Folge haben.

PAZ: Was heißt das konkret in Heller und Pfennig?

Borchert: Legt man die anerkannten Existenzminima aus den Vorschlägen von Friedrich Merz und Paul Kirchhof in Höhe von 8.000 Euro je Kind zugrunde, so errechnen sich 136 Euro Beitragsreduktion pro Jahr beziehungsweise rund 11,50 Euro pro Monat. Nimmt man die Renten- und Krankenversicherung mit rund 35 Prozentpunkten hinzu, stehen zusätzlich Entlastungsvolumina von 3.500 Euro je Kind und Jahr im Raum. Das dürfte der Orientierungspunkt für die finanzielle Größenordnung der notwendigen Konsequenzen aus dem Pflegeurteil sein. Bei zirka 16 Millionen berücksichtigungsfähigen Kindern ergibt sich pro Jahr allein für die Pflegeversicherung somit eine Summe von etwa 2,2 Milliarden Euro, das sind rund 13 Prozent des Gesamtaufwands der Pflegeversicherung. Der Kompensationsbedarf liegt dann für die zwei Drittel der Versicherten ohne aktuelle Unterhaltsverpflichtung bei etwa sechs Euro pro Monat. Zum Vergleich: Bei dem Vorziehen der Steuerreform 2005 auf 2004 erfährt der Single mit einem Durchschnittsverdienst von 35.000 Euro eine Entlastung von 476 Euro. Übrigens: Diese Beseitigung einer verfassungswidrigen Überlastung der Familien ist alles andere als ein "Bonus", wie der CDU-Sozialpolitiker Andreas Storm in seiner üblichen Verkennung des Problems meint.

Setzt sich für die Rechte der Familie ein: Jürgen Borchert Foto: ddp