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07.02.04 / "Regelungen sind nicht mehr zeitgemäß" / Thomas Straubhaar, Professor für Volkswirtschaftslehre, über den Arbeitsmarkt in Deutschland und in der Schweiz

© Preußische Allgemeine Zeitung / 07. Februar 2004

"Regelungen sind nicht mehr zeitgemäß"
Thomas Straubhaar, Professor für Volkswirtschaftslehre, über den Arbeitsmarkt in Deutschland und in der Schweiz

Zu Zehntausenden hat die IG Metall ihre Anhänger in den letzten beiden Wochen zum Streik aufgerufen. Während die Arbeitgeber nur 1,2 Prozent in zwei Stufen auf 27 Monate Laufzeit zahlen wollten, forderte die seit den mißglückten Streiks 2003 in Mitteldeutschland angeschlagene IG Metall vier Prozent für zwölf Monate Laufzeit. Ob solche Forderungen bei einem prognostizierten Wirtschaftswachstum von 1,5 bis zwei Prozent für 2004 und einer Arbeitslosigkeit von über zehn Prozent angebracht sind, bleibt anzuzweifeln. Thomas Straubhaar, Professor für Volkswirtschaftslehre, ist bezüglich des Engagements der Gewerkschaften sogar davon überzeugt, daß weniger Schutz der Arbeitnehmer im Detail in der Summe manchmal mehr Schutz ergäbe.

Das Gespräch führte Rosemarie Fiedler-Winter

PAZ: Wie beurteilen Sie die derzeitige wirtschaftspolitische Situation in der Schweiz und bei deren Nachbarn Deutschland generell?

Straubhaar: Beide Länder sind in den letzten Jahren von der Spitze der europäischen Rangliste, bezogen auf die wirtschaftliche Dynamik, an deren Ende geraten. Ihre Wachstumsschwäche ist offensichtlich geworden. Jetzt gilt es, Wachstum als Ziel an die oberste Stelle der politischen Agenda zu setzen. Wachstum muß für beide Volkswirtschaften die entscheidende Größe sein, um die vorgegebenen sozialstaatlichen Leistungen überhaupt finanzieren zu können. Dazu gehört auch das Durchforsten und Überprüfen von Verpflichtun-gen und Versprechungen. Die Sozialversicherungssysteme müssen sorgfältig auf ihre Effizienz durchleuchtet werden. In Deutschland heißt das zum Beispiel, die Frage zu klären, was im Krankenversicherungssystem zur Pflicht- und was zur Wahlversicherung gehört, sowie bei der dort ja existierenden Pflegeversicherung Klarheit darüber zu schaffen, in welchem Maße ab sofort höhere Beiträge eingefordert oder Leistungen gekürzt werden müssen.

PAZ: Welche Rahmenbedingungen sind dafür Ihrer Meinung nach die Voraussetzung?

Straubhaar: Grundlage für mehr Wachstum sind mehr Innovationen sowie eine bessere Pflege des sogenannten Humankapitals. Das kann durch ein effizientes Bildungs-, Ausbildungs- und Forschungssystem erreicht werden, das auf mehr Freiheit und weniger Staat setzt. Wir brauchen auch in diesen Bereichen mehr Wettbewerb, mehr Markt und mehr Eigenverantwortung. Leistung muß sich lohnen. Es darf nicht so sein, wie es in Deutschland ganz ausgeprägt und zu Teilen auch in der Schweiz zu finden ist, daß die Leistungsfähigen mit hohen Steuern und die weniger Leistungsfähigen mit hohen Subventionen bedacht werden. Daraus ergibt sich im Endeffekt nur Gleichmacherei, indem man den Leistungsfähigen zu viel wegnimmt und den weniger Leistungsfähigen zu viel gibt.

PAZ: Und wie soll das erreicht werden?

Straubhaar: Das wäre zu erreichen, wenn die Spanne zwischen Brutto und Netto kleiner wird. In Deutschland sind die Bruttolohnkosten

in den letzten zehn Jahren um 20 Prozent gestiegen, die Nettolöhne nur um fünf Prozent. Diese Differenz ist im wesentlichen auf die steigenden Sozialabgaben zurückzuführen. Es kommt also darauf an, die sogenannten Lohnnebenkosten zu verringern. Die Renten können eben nicht so schnell steigen wie die Löhne, während im Prinzip die Ansprüche an Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld vielleicht sogar zurückgefahren werden müssen. Das gilt ganz ausgeprägt für Deutschland, aber durchaus auch erkennbar für die Schweiz. In der Schweiz sind die Gesamtausgaben für die soziale Sicherheit von rund zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahre 1960 auf 20 Prozent im Jahre 1990 und auf 28 Prozent im Jahre 2001 angewachsen.

Der Keil zwischen Brutto und Netto wird dabei entscheidend von der Beschäftigungslosigkeit gebildet. All jene, die keine Arbeit finden, vergrößern diesen Keil, weil sie keine Abgaben zahlen, aber doch Leistungen aus der Sozialkasse in Anspruch nehmen. Daraus ergibt sich: jeder Mensch, der in die Beschäftigung zurückgeführt werden kann, trägt zu mehr Wachstum bei. Das heißt aber auch: wir müssen nicht nur mehr Wachstum schaffen, um Beschäftigung zu haben. Wir brauchen vor allem Beschäftigung, um dieses Wachstum zu erreichen. Denn durch mehr Beschäftigung werden die Sozialkassen entlastet, dadurch können die Abgaben gesenkt werden, und es wird attraktiver zu arbeiten.

PAZ: Worauf ist es dann zurück-zuführen, daß die Beschäftigungsschwelle in der Schweiz und in Deutschland so unterschiedlich ist?

Straubhaar: In Deutschland liegt die Beschäftigungsschwelle bei einem Wirtschaftswachstum von gut einem Prozent. Das bedeutet, daß selbst ein Wachstum in gleicher Größe noch kaum Antriebskraft für mehr Beschäftigung bietet. In der Schweiz ist der Arbeitsmarkt hier viel flexi-bler. Es ist einfacher, jemanden einzustellen, vor allem aber ist es auch einfacher, einen Mitarbeiter wieder zu entlassen. Es gibt keine Flächentarifverträge wie in Deutschland. In Deutschland trauen die Arbeitgeber geringeren Aufschwüngen nicht. Deshalb fahren sie in Erholungsphasen zuallererst Überstunden.

In der hohen Beschäftigungsschwelle sehe ich neben der Wiedervereinigung in den 90ern die wirtschaftlich größte Belastung für die Deutschen und eine grundsätz- liche Ursache für die gegenwärtige Wirtschaftsschwäche. Das führt letztendlich auch dazu, daß heute in Deutschland nur noch 40 Prozent der über 40jährigen einen festen Arbeitsplatz haben, während in der Schweiz immerhin noch 70 Prozent dieser Altersgruppe zu den Arbeitnehmern zählen. In Deutschland werden diese Älteren einfach nicht mehr eingestellt, weil es für sie zu viele Schutzbestimmungen gibt. Sie sind praktisch unkündbar. In der Schweiz gibt es diese Altersschutzvorkehrungen beziehungsweise einen staatlichen Kündigungsschutz für Ältere nicht.

PAZ: Wie stellt sich vor diesem Hintergrund die Arbeitslosigkeit dar? Welche Unterschiede gibt es zwischen der Schweiz und Deutschland?

Straubhaar: In der Schweiz liegt die Arbeitslosenquote bei etwa vier Prozent, in Deutschland erreicht sie mehr als zehn Prozent. Das zeigt auf einen Blick: weniger Schutz ist oft der bessere Schutz. Ein besonderes Problem liegt in Deutschland bei der großen "Sockelarbeitslosigkeit" langfristig Beschäftigungsloser. Wenn Menschen die Arbeitslosigkeit rasch überwinden und eine neue Beschäftigung finden können, ist Arbeitslosigkeit durchaus kein so gravierendes Problem. Aber wenn stets dieselben Personen, die heute jene vier oder zehn Prozent bilden, arbeitslos bleiben, dann kann es eine Bedrohung werden.

Es ist sehr bedauerlich, daß in Deutschland die Gewerkschaften, selbst nach den bitteren Erfahrungen in Ostdeutschland, beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in der Regel flexible, betriebliche Bündnisse für Arbeit nur dann unterstützen, wenn die Betriebe bereits krank sind. In der Schweiz ist das alles flexibler. Hier wird die Lohnspreizung zwischen den einzelnen Unternehmen akzeptiert. Fast alle sozialen Fragen werden betriebsspezifischer behandelt. Es ist leichter möglich, sich auf geringere Einkommen zu einigen, wenn es für den Betrieb existenzrettend wirkt. Die Interessengruppen haben deutlich weniger Potential. Diese Flexibilität zu erhalten ist eine Basis des Erfolges der Schweizer Wirtschaftspolitik.

PAZ: Wodurch wird das bewirkt?

Straubhaar: Das hängt damit zusammen, daß die Schweiz weniger zentral organisiert ist. Hier können auch finanzielle Entscheidungen von größerer Bedeutung auf lokaler Ebene getroffen werden (lokale Steuerhoheit). Eine Bundesanstalt oder "Agentur für Arbeit" existiert überhaupt nicht. Eine Staatsaufgabe zur Vermittlung von Arbeit gibt es in der Schweiz auch nicht im Ansatz. Alles ist überschaubarer. Positiv dürfte es sich in Deutschland auswirken, daß die Verantwortung für die Arbeitslosen jetzt nicht mehr zentral bei der Nürnberger Bundesagentur allein liegt, sondern daß die Kommunen mit lokalen Job-Centers mit eingebunden sind. Als negativ empfinde ich es, daß zum Beispiel die bisher zunehmende Vermittlung von Zeitmitarbeitern seit 1. Januar 2004 ebenfalls einem Tarifvertrag unterworfen wurde. Damit hat man die hilfreiche Idee der "Arbeitsverträge auf Zeit" torpediert.

Der große Unterschied zwischen Deutschland und der Schweiz liegt nicht zuletzt darin, daß die Menschen aufgrund der dezentralen Strukturen überall näher dran sind als bei zentralen Regelungen in Deutschland. Dort ist der einzelne von sehr vielen Einrichtungen und deren Bedingungen weit entfernt, und das führt dazu, daß zahlreiche Normen und Regelungen gar nicht mehr zeitgemäß sind. Schwarzarbeit, Steuerhinterziehung, Steuerflucht sind dann oft die Folgen.

PAZ: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das in beiden Ländern sehr unterschiedliche Preisniveau?

Straubhaar: Die Schweiz ist eine Hochpreisinsel. Die Gütermärkte sind relativ stark reguliert und kartellisiert. Dagegen ist der Arbeitsmarkt relativ liberalisiert. In Deutschland ist es umgekehrt. Dort ist der Kampf auf dem Gütermarkt sehr hart, und die Lebenshaltungskosten sind geringer. Viele Einzelhändler und Kleinbetriebe halten dem Preiskampf nicht stand. Dafür gibt man den Menschen mehr Schutz über den Arbeitsmarkt. Das heißt, die Schweiz erkauft sich den liberalen Arbeitsmarkt dadurch, daß der Beschäftigungsschutz über die Gütermärkte kommt. Die Landwirtschaft, Handwerksgewerbe und Einzelhandelsbetriebe, aber auch freie Berufe sind gegen ausländische Konkurrenz gut geschützt. Dadurch bleiben viele Arbeitsplätze erhalten, die bei freiem internationalem Wettbewerb wegfallen würden.

PAZ: Wie sehen Sie unter diesen Voraussetzungen Zwang und Möglichkeiten, in beiden Ländern Subventionen abzubauen?

Straubhaar: Für die Schweiz ist es notwendig, von der Hochpreisinsel runterzukommen. Landwirtschaftliche Subventionen müssen gestrichen und Kartelle müssen aufgebrochen werden. Es gilt, mehr Wettbewerb bei Energie, Post, Bahn und Telekommunikation zu ermöglichen. In Deutschland wie in der EU wurde dafür schon lange der richtige Weg eingeschlagen.

PAZ: Erkennen Sie in den beiden Ländern Notwendigkeiten und Wege zu einer wirtschaftspolitischen Umsteuerung?

Straubhaar: In beiden Ländern, in Deutschland wie in der Schweiz, erleben wir ein unglaubliches Ansteigen der Staatsverschuldung. Das heißt, unsere Generation lebt in weitem Maße über ihre Verhältnisse und hinterläßt ihren Nachfahren ungeheure Schulden, weil in beiden Ländern strukturelle Probleme bisher ungelöst geblieben sind.

Für die Bereitwilligkeit zur Umsteuerung, nicht zuletzt, um kommende Generationen zu entlasten, habe ich eigentlich für Deutschland mehr Hoffnung als für die Schweiz. Im vergangenen Jahr ist in der deutschen Öffentlichkeit durch eine ständige Diskussion in den Medien ein starkes Bewußtsein dafür geweckt worden, daß vieles geändert werden muß. Die Rürup-Kommission bietet dafür ein Beispiel. Es sind Nullrunden-Renten durchgesetzt worden. Man spricht über eine Kürzung der Renten, und ich denke, die Rentenaltersgrenze wird demnächst auf 67 Jahre hochgefahren werden. Für die Schweiz kann ich nur hoffen, daß jetzt mit den neuen Personen im Bundesrat manches geändert wird, daß eben Kartelle aufgebrochen und Subventionen gekürzt oder gestrichen sowie die öffentlichen Haushalte saniert und öffentliche Monopolbetriebe weiter liberalisiert werden. Unabdingbar bleibt für beide Länder jedoch die Erkenntnis gültig, daß Wachstum existentiell unerläßlich ist. Beide Länder sollten sich eine Vernachlässigung von Wachstumsdynamik nicht mehr lange leisten.

 

Der Schweizer Thomas Straubhaar ist Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA). Er wird nicht nur als Professor für "Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik" der Uni Hamburg, sondern auch als Mitwirkender in zahlreichen internationalen Gremien geschätzt, wie zum Beispiel des Instituts für Integrationsforschung des Europa-Kollegs oder der Joachim-Jungius-Gesellschaft und weiterer renommierter Einrichtungen. Er hat nach Studien in Bern und Berkeley sowie Lehraufträgen in Konstanz, Basel und Freiburg auch an der Universität der Bundeswehr Hamburg Volkswirtschaft gelehrt, ehe er an die Alma mater der Hanseaten berufen wurde.

Hofft im Interesse der Arbeitnehmer auf eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes: Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs Foto: HWWA