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07.02.04 / Eine Brücke namens Kant / Zum 200. Todestag von Immanuel Kant

© Preußische Allgemeine Zeitung / 07. Februar 2004

Eine Brücke namens Kant
Zum 200. Todestag von Immanuel Kant
von Dr. Waltraud Loos

Als Kant am 12. Februar 1804 im Alter von fast 80 Jahren starb und in seinem Haus aufgebahrt wurde, schien ganz Königsberg von Trauer überwältigt zu sein. Einer seiner Freunde berichtet, daß eine Reihe von Tagen hindurch "eine förmliche Wallfahrt von Vornehm und Gering stattfand, vom frühen Morgen bis zum Abenddunkel: jeder wollte den berühmten Philosophen noch einmal sehen, manche kamen sogar mehrmals wieder". Und "ein so großartiges Leichenbegängnis", wie es dann am 28. Februar sich vollzog, "hatte Königsberg noch nicht gesehen". Zwölf Studenten trugen den Sarg zu der traditionellen Begräbnisstätte der Professoren, einem gotischen Gewölbe an der Nordseite des Domchors: Dort wurde er "dem Sinne des Verstorbenen gemäß - ohne weitere kirchliche Zeremonien in die ihm bestimmte Gruft gesenkt".

Der Verstorbene war lebenslang Bürger dieser um ihn trauernden Stadt gewesen; er hatte sie nicht nur als seine Heimatstadt geschätzt, sondern auch als ein weltoffenes Zentrum von Handel und Kultur. Ihre Vorzüge hat er in einer seiner späten Schriften einmal aufgezählt: "Eine große Stadt, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angrenzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten, einen Verkehr begünstigt - eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden; wo dies, auch ohne zu reisen, erworben werden kann."

An diesem "schicklichen Platz" war Immanuel Kant am 22. April 1724 zur Welt gekommen, er wuchs als 4. Kind einer ehrsamen Handwerkerfamilie auf, in einer häuslichen Atmosphäre, die von Arbeitsamkeit, Rechtschaffenheit und pietistischer Frömmigkeit geprägt war. Von letzterer, wie überhaupt von jeglicher kirchlichen Gläubigkeit, wandte er sich allerdings schon in frühen Jahren ab. Nach dem Besuch des Friedrichskollegs begann er 1740 an der philosophischen Fakultät der Albertina das Studium der Naturwissenschaften, Mathematik und Philosophie. Damit verfolgte er einen Bildungsweg, der - anders als Theologie oder Rechtswissenschaft - nicht unmittelbar in einen Beruf führte, sondern auf eine akademische Laufbahn abzielte. Nach dem Abschluß des Studiums (1746) ging er, wie es üblich war, zunächst für einige Jahre als Hauslehrer zu adligen oder wohlhabenden ostpreußischen Familien ins Königsberger Umland, wobei er seine Studien fortsetzen und erweitern konnte. Im Jahre 1755 wurde er zum Magister ernannt und erhielt die Venia legendi, das heißt, die Erlaubnis, Vorlesungen an der Universität zu halten.

Seine Stellung entsprach in etwa der eines heutigen Privatdozenten, wobei seine Einkünfte bescheiden waren: sie beschränkten sich auf Hörergelder und Honorare für Publikationen. Schon dies gab ihm Anlaß, eine umfangreiche Vorlesungstätigkeit auszuüben, die etwa 20 Stunden in der Woche umfaßte und sich auf ein breites Fächerspektrum - Geographie, Anthropologie, Philosophie, Pädagogik - erstreckte. Kant erwies sich als ein begabter und erfolgreicher Lehrer. Seine Vorträge waren - was die Hörer bestätigen - flüssig und geistvoll, gelegentlich sogar witzig. Wenn er über fremde Länder und Städte sprach, glaubte man, daß er dies alles aus eigener Anschauung schildere. Außer den Studenten kamen bald auch städtische Bürger, Offiziere und Durchreisende, um seine Vorlesungen zu hören.

Neben den Vorlesungen gehörte zu seinem Arbeitspensum eine umfangreiche und vielseitige wissenschaftlich-schriftstellerische Tätigkeit. Bereits 1746 hatte er beim Abschluß seines Studiums eine physikalische Abhandlung verfaßt über "Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte", in der es, in einer Auseinandersetzung mit Leibniz, um die "Kraft" bewegter Körper in Abhängigkeit von Masse und Geschwindigkeit ging. Besondere Beachtung fand 1755 die "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels", in der er seine Ansichten über den "Ursprung des ganzen Weltgebäudes" und die Entstehung des Sonnensystems darlegte, und deren Grundgedanken später zusammen mit denen des französischen Forschers Laplace als "Kant-Laplacesche Theorie" in die Geschichte der Astronomie eingingen. Eine Schrift aus dem Jahre 1763 "Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" behandelte die philosophischen Grundlagen der Theologie. Diesem Themenkreis verwandt war 1764 die "Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral".

Kant gewann aber nicht nur als akademischer Lehrer und Wissenschaftler hohes Ansehen, sondern man schätzte ihn auch als gern gesehenen Gast in der besseren Königsberger Gesellschaft, wo er, stets elegant gekleidet, mit Charme, Humor und geistvoller Beredsamkeit die Unterhaltung der Tischrunde zu bereichern verstand. Einen eigenen Haushalt hat er damals nicht geführt, und er hat auch nie versucht, eine Familie zu gründen.

Nach 15 Jahren der Lehrtätigkeit und der Ablehnung zweier Berufungen an andere Universitäten erhielt er endlich im Jahre 1770 an der Albertina die erwünschte Professur für Logik und Metaphysik, die er bis an sein Lebensende innehatte. Als Wissenschaftler vollzog Kant um diese Zeit eine grundlegende Wende, die ihn etwa zehn Jahre lang in der literarischen Öffentlichkeit verstummen ließ, bis in der Zeit von 1781 bis 1790 die drei großen "Kritiken" erschienen, die gleichsam eine "kopernikanische Wende" in der Philosophie bedeuteten. Das erste der drei Werke, die "Kritik der reinen Vernunft", stellte das bis dahin vorherrschende System der rationalistischen Philosophie in Frage, indem es die Grundlagen aller Erkenntnisse einer radikalen Analyse unterzog. Die "Kritik der praktischen Vernunft" verkündete Kants Ethik, den Gedanken der Pflicht in den Mittelpunkt rückend. Die "Kritik der Urteilskraft" schließlich erörterte die Problematik der Ästhetik und Wertsetzung.

Diese Werke, insbesondere die "Kritik der reinen Vernunft", bewirkten eine geistige Revolution und forderten zu Zustimmung oder Widerspruch heraus. An fast allen deutschen Universitäten wurde die Kantische Philosophie gelehrt und in ganz Europa unter Gelehrten und Schriftstellern diskutiert. Schiller gewann aus Kants Lehre das philosophische Fundament für seine Weltanschauung und Dichtung. Goethe schätzte besonders die "Kritik der Urteilskraft" und die naturwissenschaftlichen Schriften "unseres herrlichen Kants". Man interessierte sich nun auch für das Äußere des zu Ruhm gelangten Philosophen: so wurden Portrait-Stiche in Publikationen für die gebildete Leserschaft verbreitet.

Wer allerdings dem Gelehrten persönlich begegnen wollte, mußte schon eine Reise ins ferne Ostpreußen unternehmen. Kant hat Besucher, die ihn zu sprechen wünschten, stets liebenswürdig empfangen. Sehr anschaulich berichtet über seinen Besuch der russische Schriftsteller Nikolai Karamsin, der am 18. Juni 1789, aus St. Petersburg kommend, in Königsberg eintraf, das für ihn eine der "größten Städte Europas" war; schon am Nachmittag dieses Tages machte er einen Besuch "bei dem berühmten Kant, einem scharfsinnigen und feinen Metaphysiker ... den einst der verstorbene (Philosoph) Mendelssohn den alles zermalmenden Kant nannte". Der "kleine hagere Greis, von einer außerordentlichen Zartheit und Blässe" führte drei Stunden lang mit dem fremden jungen Mann ein lebhaftes Gespräch, dessen Gehalt dieser in seinem Reisebericht wiederzugeben versuchte.

Zu Kants damaliger Häuslichkeit bemerkt Karamsin: "Er bewohnt ein kleines, unansehnliches Haus. Überhaupt ist alles bei ihm einfach, ausgenommen seine Metaphysik." Das "unansehnliche" Haus lag in der Prinzessinstraße, nicht weit entfernt von Schloß und Universität. Kant hatte es im Jahre 1787 bezogen und damit zum erstenmal einen eigenen Haushalt begründet. Es bot genügend Raum für den Hausbesitzer, einen Diener und eine Köchin (nebst Hund und Katze). Im Untergeschoß war ein Hörsaal eingerichtet; der Speiseraum lag im Obergeschoß. Dort empfing Kant die Gäste seiner mittäglichen Tafelrunde, zu der er jeweils einige seiner Freunde einlud. Das Mahl und die Gespräche dauerten von 1 bis 4 (oder 5) Uhr. Danach machte Kant einen Spaziergang. Er hielt sich in seinem Tageslauf an eine genau festgelegte Ordnung und hat es dadurch geschafft, trotz seiner schwächlichen Konstitution bis ins hohe Alter gesund zu bleiben.

In den späten Jahren veröffentlichte Kant noch weitere bedeutende Schriften, so etwa 1793 "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", in welcher er "Religion" vom "Kirchenglauben" unterschied und dadurch einen Konflikt mit dem preußischen Ministerium heraufbeschwor, das unter König Friedrich Wilhelm II., dem Nachfolger des großen Friedrich, eine engherzige Zensur ausübte. Viel Beachtung fand die Schrift "Zum ewigen Frieden", 1795, die unter dem Eindruck der ersten Revolutionskriege entstand und in der Kant - ohne in pazifistische Illusionen zu verfallen - für den Zusammenschluß der Staaten in einem Völkerbund plädierte.

Im Jahre 1796 mußte er aber doch wegen zunehmenden Kräfteverfalls seine Vorlesungen aufgeben, einige Jahre später auch jegliche wissenschaftliche Tätigkeit. Die Anhänglichkeit treuer Freunde begleitete ihn in seiner letzten, stillen Lebensphase.

Kants Freunde kümmerten sich auch um seine Grabstätte und ließen einen schlichten Gedenkraum errichten. Aus ihrer Gemeinschaft erwuchs die "Gesellschaft der Freunde Kants", die 1880/81 eine Umbettung des Toten und den Bau einer Kapelle anregte. Auf dem Paradeplatz erinnerte an Kant das von Christian Daniel Rauch errichtete Denkmal, das bis 1885 in der Prinzessinstraße gestanden hatte. Zum 100. Todestag wurde an der westlichen Schloßmauer eine Tafel mit dem berühmten Ausspruch aus der "Kritik der praktischen Vernunft" angebracht: "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht ... der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir". Im Kant-Gedenkjahr 1924 ließ die Stadt das von Friedrich Lahrs entworfene Grabmal an der Nordostecke des Doms errichten, das seitdem zu den Wahrzeichen Königsbergs zählte.

Auch in der Wissenschaft blieb Kant aktuell. Die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts setzte sich auf verschiedenen Wegen mit seiner Ideenwelt auseinander. 1904 wurde in Halle/S. die - noch heute bestehende - international tätige Kant-Gesellschaft gegründet, die in den "Kant-Studien" zahllose Untersuchungen zu Kants Leben und Lehre veröffentlichte.

An der Königsberger Universität war das geistige Erbe Kants bis in die letzte Phase ihres Bestehens gegenwärtig geblieben. Professor Kowalewski leitete im Sommer 1944 eine Lesegemeinschaft über Kants "Metaphysik der Sitten", die Schrift, in der Kant seinen Grundsatz einer allgemeinen Ethik, den "kategorischen Imperativ" formuliert hatte. - 1945, am Todestag Kants, dem 12. Februar, legten Mitglieder der "Gesellschaft der Freunde Kants", unter persönlicher Gefährdung durch Artilleriebeschuß, einen Kranz am Grabmal nieder, das wie durch ein Wunder bei den Bombenangriffen im August 1944 unzerstört geblieben war.

Mit der Eroberung der Stadt durch die Rote Armee im April 1945 endete die deutsche Geschichte Königsbergs, und es begann die Umwandlung der Stadt in "Kaliningrad", eine Ansiedlung sowjetischen Typs. Es dauerte einige Jahrzehnte, bis sich aufgeschlossene Bewohner für die Geschichte der Stadt und die Traditionen des alten Königsberg zu interessieren begannen. Einige beherzte Wissenschaftler setzten es durch, daß im Kant-Gedenkjahr 1974 an der russischen Universität Königsberg/Kaliningrad ein erster Kant-Kongreß zugelassen wurde. Kant-Forschung konnte sich dort allerdings erst nach dem Zerfall der Sowjetunion (und dem Ende der ideologischen Bevormundung) frei entfalten. Seit jenem Beginn werden Kant-Lesungen mit internationaler Beteiligung veranstaltet und Kant-Jahrbücher ediert. 1990 entstand eine russische Kant-Gesellschaft, deren Vorsitz Professor Leonard A. Kalinnikow in Königsberg innehat. Das Kant-Grabmal am - weitgehend restaurierten - Dom wird von Einheimischen und Touristen gern besucht; im Nordturm des Domes ist ein Kant-Museum eingerichtet, das sich über mehrere Stockwerke erstreckt. Seit Mai 1992 steht eine Nachbildung des Kant-Denkmals von Christian Rauch auf dem alten Sockel; eine zweisprachige Tafel mit dem Ausspruch aus der "Kritik der praktischen Vernunft" wurde im September 1993 in der Nähe der früheren Stelle angebracht.

Das Engagement für Kant und seine Philosophie ließ neue Verbindungen zwischen Ost und West aufkommen. An der Akademie der Wissenschaften in Moskau arbeiten Experten - mit deutscher Unterstützung - an einer zweisprachigen Kant-Edition in 6 Bänden. Russische Forscher werden zu internationalen Treffen geladen; an den Universitäts-Jubiläumsfeiern in Königsberg im Jahre 1994 nahmen deutsche Kant-Experten teil, und seitdem sind die Kontakte nicht abgerissen.

In der Begegnung mit der deutschen Kant-Forschung stellt sich den russischen Wissenschaftlern aber auch die Frage, welche Bedeutung die Lehre Kants für ihren eigenen Kulturkreis hat und welchen Einfluß sie auf dessen große Denker ausübte. Leonard Kalinnikow nannte Kant einmal den "russischsten" der deutschen Philosophen, weil seine Denkweise, die nicht so einfach zu interpretieren sei wie etwa die Fichtes oder Hegels, der russischen "Seele" besonders nahestehe. Auch hätten die russischen Philosophen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ihre Gedanken immer in der Auseinandersetzung mit Kant entwickelt, was etwa bei Wladimir Solowjew, Nikolaj Berdjajew und Pawel Florenskij besonders deutlich geworden sei. - Noch universeller sieht es J. E. Golosowker, ein Autor, der wie durch ein Wunder Stalins GULAG überlebte. Er bekennt in seinem Werk "Dostojewskij und Kant": "Woher und wohin auch ein Denker auf dem philosophischen Wege schreitet, er muß über die Brücke, deren Name Kant ist".

Immanuel Kant: Lithographie von Heinrich Wolff