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06.03.04 / Wie Perlen an einer Schnur / Ruth Geede erinnert sich an Begegnungen mit Agnes Miegel

© Preußische Allgemeine Zeitung / 06. März 2004

Wie Perlen an einer Schnur
Ruth Geede erinnert sich an Begegnungen mit Agnes Miegel

Es geschah kürzlich bei einer Besprechung, in der es um kulturhistorische Themen ging, als das Gespräch auf die ostpreußischen Salzburger kam. Da meine mütterlichen Vorfahren auch aus dem Ponggau eingewandert waren, nahm ich lebhaft daran teil und schilderte eines meiner schönsten Erlebnisse im Salzburger Land. Das war kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, als ich, von Goldegg kommend, auf der Straße bei Schwarzach auf Agnes Miegel traf - an der Stelle, wo ihre und meine Vorfahren einst ausgewandert waren. Das was schon eine besondere Begegnung und blieb unvergessen.

Ich war etwas verwundert, als ich kaum ein Echo auf meine Schilderung verspürte. Es herrschte eine eigenartige Stille - und erst als ich meine Gesprächspartner etwas verwundert ansah, erblickte ich eine gewisse Ungläubigkeit auf ihren Gesichtern, bei manchen auch Nachdenklichkeit. Und da wurde mir klar, daß es für die so erheblich Jüngeren, und vor allem die aus der Enkelgeneration, schwer vorstellbar war, daß ich die Begegnung mit der größten Ostpreußin so schildern konnte, als sei sie gestern gewesen - und nicht vor fast 65 Jahren! Und da wurde mir bewußt, wie dankbar ich sein konnte, daß ich diese Frau so intensiv erleben durfte, als Dichterin, als Mensch, als "Mutter Ostpreußen", auch als meine Mentorin. Denn unsere Begegnungen, die sich wie Bernsteinperlen an einer langen Schnur aneinanderreihen, gehen ja nicht bis auf jenes Treffen in der Heimat unserer Ahnen zurück, sondern noch viel weiter. Der Faden spult sich bis zu meiner Kindheit ab, wenn auch für mich damals nicht bewußt wahrgenommen. Man bedenke: In dem Jahre, als ich in Königsberg geboren wurde - 1916 -, wurde sie als größte deutsche Dichterin mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. Und ich war acht Jahre alt, als sie die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Albertina erhielt. Diesen Tag durfte ich als Tochter eines Universitätsangehörigen miterleben. Al- lerdings nur im Säulengang, aber das schränkte den Eindruck überhaupt nicht ein, den diese Feier, die anläßlich des 200. Geburtstages von Immanuel Kant stattfand, auf mich machte. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich wurde als Kind in dem Menschenpulk aus dunkel gekleideten Herren und - wenigen - Damen fast erdrückt. Eine von ihnen mußte Agnes Miegel sein, die wie auch die Schwedin Elsa Brandström die Ehrendoktorwürde erhielt - aber weder die eine noch die andere war für mich ein Begriff. Das Bewußtsein, diese Stunde hautnah miterlebt zu haben, kam erst viel später, als ich mit Agnes Miegel darüber sprach.

Das war dann schon in der Hornstraße, in der ich oft zu Gast war. Als ich das erste Mal zu ihr ging, war ich 19 Jahre alt und hatte gerade mein erstes Buch geschrieben, plattdeutsche Märchen, die ich nach Erzählungen meiner Mutter gestaltet hatte. Aber da war mir ihr Werk schon längst vertraut. Seit wir in der Schule ihre Balladen und Gedichte gelesen und gelernt hatten, die mich sehr beeindruckten, wie "Die Frauen von Nidden". Seit ich im Bücherschrank meines großen Bruders ihre Bücher entdeckt hatte und mich vor allem die "Geschichten aus Altpreußen" sehr bewegten, obgleich ich sie noch nicht verstand. Und seit ich sie bei einer Lesung in unserer Schule persönlich erlebte, fasziniert von ihrer warmen, weichen Sprache - der Sprache der Heimat.

In den Gesichtern ihrer Mitmenschen - auch in den ihr nicht vertrauten - konnte sie lesen wie in offenen Büchern. Bei meinem ersten Besuch in der Hornstraße fragte sie mich unvermittelt: "Sind Sie Schalauerin?" Ich war verunsichert: Schalauen, war das nicht ein Prußengau? Sie fragte weiter: "Wo kommen Ihre Vorfahren her?" Ich antwortete: "Aus dem nördlichen Ostpreußen." Sie lächelte: "Na, sehen Sie, also aus Schalauen. Nur die Menschen dort haben diese eigenartig helle Haut und die hellen Augen. Aber Ihr Mund, der ist salzburgisch!" Und damit hatte sie meine Wurzeln freigelegt, die auch die ihren waren. Damals war ich ihr schon als junge Autorin vertraut, denn sie nahm - wenn auch selten - an den Treffen der ostpreußischen Mitglieder des Deutschen Schriftstellerverbandes teil, die im Königsberger "Blutgericht" stattfanden. Ich war das jüngste Mitglied und wurde demgemäß von manchen älteren Schriftstellerinnen etwas herablassend betrachtet. Agnes Miegel hat nie gesagt: "Sie sind ja noch viel zu jung!", sondern: "Schön, daß Sie so jung sind. Schreiben Sie, schreiben Sie!"

Wie wunderbar, wenn ich sie in ihrer kleinen, hellen Wohnung besuchte, in der außer Balladen und Gedichten auch ihre großen epischen Werke entstanden wie die "Geschichten aus Altpreußen", über die sogar die New York Times schrieb, daß dieses Buch allein genügen würde, um Agnes Miegel als größte deutsche Dichterin ihrer Zeit zu bezeichnen. Da konnten allzuviele Besucher doch erheblich stören, und deshalb wachte ihre Betreuerin und Gefährtin Elise Schmidt wie ein Zerberus und ließ nur angemeldete Besucher herein, doch stets mit der Mahnung: "Aber nur ein Weilchen, Fräulein Miegel braucht Ruhe!" Für sie blieb die Dichterin das "Fräulein", trotz des Ehrentitels Dr. h. c. Die Gespräche dehnten sich dann doch oft zu Elises Unmut aus, denn die Dichterin liebte Besuch, vor allem von jungen Menschen. Immer standen Blumen in ihrer Wohnung. Ich brachte ihr stets zum Geburtstag lila Tulpen, ihre Lieblingsblumen.

Die für mich aber eindrucksvollste Begegnung mit Agnes Miegel war dann doch die bereits geschilderte im Salzburger Land, unserer gemeinsamen Mütterheimat, die aber nicht ganz zufällig erfolgte. Wir nahmen beide an einer Kulturtagung in Salzburg teil, Agnes Miegel natürlich als gefeierter Ehrengast. An einem freien Tag ging ich mit meinem Salzburger Begleiter in Goldegg auf Spurensuche. Als wir wieder auf der Fahrstraße waren, hielt auf einmal ein Borgward, und ich hörte aus dem offenen Fond eine vertraute, helle Stimme: "Ruthchen, Sie hier!" Agnes Miegel hatte gemeinsam mit ihrer Freundin Alma Rogge eine Fahrt durch das Land ihrer Vorfahren unternommen, denen sie das von mir sehr geliebte Gedicht "Meinen Salzburger Ahnen" gewidmet hatte. Jetzt standen wir also gemeinsam im Schatten der Berge, "wie der Ahn sie sah zum letzten Mal ..." Noch nie habe ich die Fäden, die uns verbanden, so eng geknüpft empfunden wie in jener Stunde.

Dann aber bekommt meine Kette ein paar leere Stellen: Krieg, Russeneinfall, Vertreibung - sie floh wie ich über See, doch ihr Fluchtweg führte nach Dänemark und in das Gefangenenlager Oksböl. Und doch hatte ich das Glück, sie bald wiederzusehen. Das war im März 1948. Mich hatte es in den Osten der Lüneburger Heide verschlagen, meinen Bruder nach Bad Nenndorf. Und da ich noch unverheiratet war, er aber für eine fünfköpfige Familie sorgen mußte, trampte ich mit bei Bauern verdienten Lebensmitteln zum Deister. Irgendwie kamen wir auf die Erzählung von Agnes Miegel zu sprechen - aus meinem Lieblingsbuch, den "Geschichten aus Altpreußen"-, die ja zum Teil in dieser Gegend spielt. Und da sagte meine Schwägerin: "Weißt du, daß Agnes Miegel hier ganz in der Nähe lebt? Auf Schloß Apelern bei dem Baron Münchhausen!" Da müssen wir hin, war mein erster Gedanke, und wir setzten ihn einige Tage später in die Tat um. Ihr Geburtstag war zwar schon vorbei, und Blumen hatten wir sowieso nicht - schon gar nicht lila Tulpen -, dafür ein Glas Rhabarbermarmelade. Es war ein sonniger Vorfrühlingstag, und auf einmal rief meine Schwägerin: "Ruth, sieh doch bloß!" Da leuchtete es an einem kleinen Hang lila-blau: Es waren Veilchen, wilde Veilchen in solch einer Fülle, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Wir pflückten beide Hände voll - nun konnten wir ihr zwar keine lila Tulpen bringen, aber lila Veilchen. Es wurde ein bewegendes Wiedersehen in dem kalten Eckzimmer hoch über dem Graben des alten Wasserschlosses. Sie saß in einem alten Sessel, fröstelnd, sehr schmal, aber ihr Lächeln zeigte die an ihr so geliebte Wärme. Elise zauberte heißen Tee - Kälte und Fremde waren vergessen, wir waren wieder in der Heimat. Sprachen nur von ihr, kaum von dem eigenen Schicksal.

Ein Jahr später durfte ich auf der Feier zu ihrem 70. Geburtstag, die von der Weserstadt Rinteln veranstaltet wurde, die Laudatio halten. Ich hatte für sie das Gedicht "Ruf der Heimat" geschrieben, sie freute sich sehr und genoß die Stunden im Kreis der Gratulanten, die zum Teil von weit her gekommen waren. Als sie dann ihre endgültige Heimstatt in dem kleinen Haus in Bad Nenndorf fand, wurde dieses - wie früher ihre Wohnung in der Königsberger Hornstraße - zum Ziel ihrer Landsleute und Literaturfreunde. Ich habe sie dort oft besucht, vor allem an ihren Geburtstagen - und dann wieder mit lila Tulpen! -, nicht nur um ihr zu gratulieren, sondern auch um über sie zu schreiben, vor allem für das Ostpreußenblatt. Das habe ich auch bei anderen Gelegenheiten getan, wenn sie an Feierlichkeiten als Ehrengast teilnahm, aus ihren Werken las oder in Studios zu Schallplattenaufnahmen weilte.

Wenn ich jetzt einmal an ihrem Grab auf dem Friedhof in Bad Nenndorf stehe, dann brauche ich nur einige Schritte weiterzugehen, dann bin ich an der letzten Ruhestätte meines Bruders. Auf beiden Steinen steht: Geboren in Königsberg/Pr. Ihre Worte begleiten mich noch immer, sie sind wie Marksteine an meinem Lebensweg. Auch jetzt im späten Alter, von dem ich glaubte, es nie zu erreichen, wie sie in ihrem Gedicht "Alter" schreibt: "Nie zu erwandern schienst Du, Gebirge Alter!" Sie hat es erwandert, aber ich bin noch auf Wanderschaft. Und wenn ich ihre Ballade "Heinrich von Plauen" lese, dann spüre ich die warme Geborgenheit der Heimat, die sie bewahrt hat - und das Bewußtsein der Gnade eines reich erfüllten Lebens: "Der Abend allein ist das Beste!" - Danke, Agnes Miegel!

Vera Macht: Ölporträt der jungen Agnes Miegel Foto: Archiv

Heinrich Wolff: Bildnis Agnes Miegel (Lithographie)


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