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20.03.04 / Zwei Welten, aber keine Nation / Politiker und Bürger leben nebeneinander her

© Preußische Allgemeine Zeitung / 20. März 2004

Zwei Welten, aber keine Nation
Politiker und Bürger leben nebeneinander her
von Klaus Hornung

Über ein halbes Jahrhundert nach der deutschen Katastrophe von 1945 und 13 Jahre nach der glückhaften Wiedergewinnung ihrer staatlichen Einheit befinden die Deutschen sich in einer tiefen Krise, nicht nur ökonomisch, sondern vor allem geistig, kulturell, historisch-politisch. Jüngste Vorgänge wie die um den Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann und General Günzel spiegeln drastisch die Orientierungslosigkeit. Hohe moralische Attitüden wie Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus verhüllen kaum den wahren Kern des politischen Machtkampfes und verlieren damit alle Glaubwürdigkeit. Die Linke versucht mit stetig wiederkehrenden Kampagnen unter dem Etikett des "Aufstands der Anständigen gegen Rechts" unsere Republik Schritt für Schritt in die Richtung einer "antifaschistisch-demokratischen Ordnung" zu kippen, wie sie einst auch auf dem Etikett der DDR gestanden hat. Hinter dem Reformgetöse um Renten, Steuern, Arbeitsmarkt, Gesundheit vollzieht sich - von der unpolitischen Mehrheit unbemerkt - ein stiller Verfassungswandel, weg von der freiheitlichen und pluralistischen Demokratie des Grundgesetzes von 1949. Wie 1933/34 erkennen auch jetzt wieder die meisten Zeitgenossen nicht, "welche Geschichte sich mit ihnen abspielt und was die Geschichte (später) über sie wissen würde" (Friedrich H. Tenbruck).

Die Frage ist dringlich: Wer regiert uns eigentlich? Die gewählten Vertreter in einer repräsentativ-parlamentarischen Demokratie oder die selbsternannten Gutmenschen in den medialen Kommandohöhen, jene Kontrolleure ohne Kontrolle mit ihrem Mißbrauch der Geschichte "zu gegenwärtigen Zwecken" (Martin Walser)? In einer Gesellschaft "außengeleiteter" Menschen in unserer Welt des Massenkonsums und des "Infotainments" sind die Medien, allen voran die televisionären, längst in die Position der faktischen ersten Gewalt in Staat und Gesellschaft eingerückt. Es fehlt ein neues, der modernen Mediengesellschaft entsprechendes System der Gewaltenteilung, der "checks and balances", der Kontrolle und Machtbalance.

Zu diesem Krisenbild gehört die fortschreitende Entfremdung zwischen der politischen und medialen Klasse im totalen Parteienstaat auf der einen Seite und der vielzitierten "Basis", dem realen Volk, auf der anderen, über dessen Meinungen und Interessen man meist seltsam kühl, manchmal brutal hinweggeht. In diesem Land können Schicksalsentscheidungen wie etwa die Einwanderungspolitik oder über "Europa" nicht mehr frei öffentlich diskutiert werden. Tabus der Political Correctness haben sich wie meterdicke Betonblöcke über unsere öffentlichen Debatten gelegt. Ein sicherer Indikator ist dabei nicht zuletzt die in unseren öffentlichen Auseinandersetzungen verwendete Sprache, die mit bestimmten Begriffen und einer wachsenden vergröbernden und polemischen Begrifflichkeit mehr und mehr an das "Wörterbuch des Unmenschen" der NS-Zeit erinnert. Wieder werden politische Gegner zu Feinden, schwirren Wörter wie "rausschmeißen", "distanzieren", "ausgrenzen" durch die Luft, nennt man Meinungen anderer "untragbar", "unsagbar", wenn nicht gleich "volksverhetzend" im Blick auf den problematischen Paragraph 130 des Strafgesetzbuchs. Da nennt der Inhaber des politischen Primats und der Kommandogewalt über die Bundeswehr einen verdienten General öffentlich vor surrenden Fernsehkameras "verwirrt", ohne sich der totalitär-stalinistischen Herkunft solcher Sprache in der Rüstung seines guten "demokratischen" Gewissens bewußt zu werden. Wo solche Sprache üblich wird, werden dann eines Tages auch die psychiatrischen Kliniken nicht mehr fern sein, in die man politische Gegner abschiebt, die unser stickiges, sanfttotalitäres Meinungsklima noch zu kritisieren wagen. Die Ausgrenzung und Stigmatisierung nicht linksextremistischer und kommunistischer, sondern freiheitlich-konservativer Positionen und der demokratischen Rechten belegt die These Arnulf Barings, daß wir es mit dem historischen Prozeß der Auflösung und Zerstörung des Bürgertums zu tun haben, der mit der Inflation und der Weltwirtschaftskrise der 20er und 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts begonnen hatte und dann im Sowjetkommunismus wie im Nationalsozialismus gipfelte. Verglichen mit England, Frankreich oder Amerika ist das bürgerliche Element heute in Deutschland tief geschwächt, verfügen wir nicht mehr über politisch vitale und selbstbewußte Mittelschichten, von denen Aristoteles wußte, daß die Demokratie vor allem von ihnen lebt - auch in den modernen Gesellschaften.

Auch und besonders auf der "europäischen Ebene" setzt sich der Entfremdungsprozeß zwischen den politischen und medialen Klassen einerseits und den Interessen, Wünschen und Urteilen der Völker, der "pays réels" mit gesteigerter Geschwindigkeit fort. Der von dem geschlossenen Zirkel eines sogenannten Verfassungskonvents beschlossene Verfassungs-Entwurf sollte bis zum Jahresende 2003 "eins zu eins umgesetzt" und als "Paket" nicht mehr aufgeschnürt werden. Daß diese Forderung vor allem in den sozialistischen Quartieren erhoben wird, muß stutzig machen, geht es hier doch um eine weitere Stärkung der zentralistisch-bürokratischen Kräfte in der Union hinter wohlklingenden Formeln wie einer "immer engeren Integration". Das bisherige Einstimmigkeitsprinzip im Europäischen Rat, also das Vetorecht jedes Mitgliedsstaates, soll Schritt um Schritt abgelöst werden durch komplizierte Mehrheitsentscheidungen. Vor allem die deutsche Seite mit allen ihren Parteien bleibt der entschiedenste Rufer nach "Integration" und bestätigt damit Margaret Thatchers Urteil, die Regierenden in Deutschland seien vor allem deshalb für Europa, weil es ihnen die Pflicht und die Last abnehme, sich selbst zu regieren. Und kein Geringerer als Alfred Grosser urteilt ähnlich: Für die Franzosen bedeute Europa ein Projekt, um sich auch in der Zukunft behaupten zu können, während die Deutschen sich anscheinend am liebsten in Europa auflösen möchten. Glücklicherweise behalten viele Europäer gegenüber dieser deutschen Europa-Euphorie ihren kühlen Kopf, ist ihnen ihr nationales Hemd im Zweifelsfall meist näher als der europäische Rock, was dann in Krisensituationen deutlich hervortritt. So sprach das unterschiedliche Verhalten in der Irak-Krise im Frühjahr 2003 Bände, als die europäischen Staaten unbeschadet ihrer Mitgliedschaft in der EU unterschiedliche Entscheidungen trafen und diese an ihren jeweiligen nationalen Interessen maßen. Sowohl Großbritannien, Spanien und Italien erschien der Rückhalt an den USA wichtiger als das Vertrauen auf die begrenzten militärischen Möglichkeiten Europas. Und die gleiche Entscheidung trafen die "neuen Europäer" in Osteuropa, die Balten und die Polen. Hier ist man nach den Erfahrungen mit der russischen und sowjetkommunistischen Fremdherrschaft besonders sensibel gegen neue Fremdbestimmung durch eine zentralistische EU. Und hier ist man sich offensichtlich auch mehr als anderswo darüber im klaren, daß der Wesenskern Europas nicht in möglichst umfassenden Unifizierungen und Normierungen bestehen kann, sondern in der Vielfalt und dem unantastbaren Wert der jeweiligen Kulturen, Traditionen, Nationen und Religionen unter dem Motto "So viel Einheit wie nötig, so viel Eigenständigkeit und Vielfalt wie möglich" statt umgekehrt.

Dies ist in der Tat der gesündere Weg für ein Europa zwischen Lappland und Sizilien, zwischen Irland und der Balkanhalbinsel. Ein solches Europa wird voraussehbar auf jeden Fall funktionsfähiger sein als eines nach den Plänen und Modellen einer geschichts- und menschenfernen bürokratisch-technokratischen Zentralisation, die die Kräfte und Quellen seiner Nationen zum Verdorren bringen würde: Die öden funktionalen Glaspaläste der EU in Brüssel und Straßburg oder die enormen Korruptionskosten ihrer Mega-Bürokratie sind hier symbolische und reale Warnungen genug! Gerade die Erfahrungen der Osteuropäer mit dem megalomanen totalitären Sowjetimperialismus machen sie sensibel für ähnliche Entwicklungen der EU mit ihrer Neigung zu öder Zentralisation nach innen und ihrer Überdehnung, etwa durch den türkischen EU-Beitritt, der die europäische Einheit und Identität auf die Dauer schädigen, ja zerstören würde. Schon die jetzige europäische Einwanderungspolitik ist auf dem Weg, einem künftigen multikulturell und islamisch geprägten Europa das Bett zu bereiten. Der türkische EU-Beitritt wird diesen Prozeß unumkehrbar machen. Das alles mag der Vorstellung von der "Finalität" Europas der Fischer, Schröder und Genossen entsprechen. Er würde jedoch zu Veränderungen in den Machtkonstellationen unseres Weltteils führen, die das Ausmaß des historischen Umbruchs vom Römischen Reich zur Völkerwanderung wohl noch übertreffen würden. Friedrich Tenbrucks seherische Warnung vor den wirren Zeiten und "großen Umbrüchen, die stets inkognito einherkommen" und gegen die die Zeitgenossen blind sind wie in der antiken Tragödie, vermag uns eine realistische Orientierung zu vermitteln.

Die nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums 1989/91 vollmundig proklamierte "neue Weltordnung" ist im zurückliegenden Jahrzehnt einer deutlichen Weltunordnung gewichen. Die Kriegserklärung des islamistischen Terrorismus mit dem Angriff auf die Twin Towers in New York am 11. September 2001 hat eine neue Epoche der Weltgeschichte eröffnet, deren Verlauf und schließliche Ergebnisse so wenig vorherzusehen sind wie vor 100 Jahren die Epoche der Weltkriege und totalitären Diktaturen. Die amerikanische Antwort im Zeichen einer gefährlichen imperialen Überdehnung ("overstretch") hat bereits in die Sackgasse klassischer Guerillakriege mit der Flankierung durch weltweite Terroraktionen gegen die hochempfindlichen Nervenzentren der westlichen Industriegesellschaften geführt. Zwischen der hochentwikkelten amerikanischen Militärmaschinerie und den Netzwerken einer militärisch unterlegenen, jedoch ideologisch hochmotivierten islamischen Welt hat sich ein ungleichgewichtiger Krieg entwickelt, in dem diese auf einen langdauernden, geografisch und zeitlich unbegrenzten Kampf setzt, aus dem sie schließlich angesichts der geistig-moralischen Schwäche des "ungläubigen" Westens und seines darin begründeten demographischen Niedergangs siegreich hervorgehen werde.

Zu Recht weisen uns qualifizierte Experten wie Peter Scholl-Latour oder Bassam Tibi darauf hin, daß diese hohe Motivation des Islamismus in dem Gefühl einer jahrhundertelangen Demütigung durch die westlichen "Kreuzfahrer" wurzelt. Schon die antikolonialen Befreiungsbewegungen nach dem Ersten und dann besonders nach dem Zweiten Weltkrieg im Zeichen des arabischen Nationalismus und Sozialismus hatten sich gegen das Eindringen des Westens, zunächst Großbritanniens, in den nah- und mittelöstlichen Raum gerichtet. Nachdem die Vereinigten Staaten England in der Region als dominierende Macht abgelöst hatten und die Etablierung Israels 1948 dort als eine westliche, "auf das arabische Herz gerichtete Pistole" empfunden wird, hat sich der Konflikt weiter verschärft, dessen Ursachen von der arabisch-islamischen Welt nicht nur als ökonomischer Angriff des Westens im Dienst der Ausbeutung ihrer Ressourcen verstanden werden, sondern mehr noch als Angriff auf die eigene kulturelle und spirituelle Identität. Der israelisch-arabische Krieg von 1967 mit seiner Niederlage der arabischen Seite diskreditierte die arabisch-nationalistischen Regimes nachhaltig und führte zur Entfaltung einer islamischen Renaissance, die nun im militanten und terroristischen Islamismus ihre Speerspitze gefunden hat. In diesem Sinne wird man den 11. September 2001 als eine Wende von Defensive und Widerstand zur Gegenoffensive qualifizieren können. Zu ihrer Abwehr wird im Westen eine Art Doppelstrategie empfohlen, mit einem entschiedenen Kampf gegen den Terrorismus in Verbindung mit einer politischen Strategie, die die Interessen und die Würde der gemäßigten islamisch-arabischen Welt respektiert. Ob diese Strategie zur Trennung der Gemäßigten von den Radikalen in der islamischen Welt letztlich aufgehen wird, kann heute noch niemand sagen. Nicht zuletzt tragen heute auch die islamische Expansion in Asien und Afrika sowie die Einwanderung nach Europa aus der Türkei Richtung Deutschland und aus Nordafrika nach Frankreich und in die europäischen Mittelmeerländer unverkennbar offensive Züge mit dem Ziel einer langfristig-strategischen Landnahme in Europa unter dem Beifall der einheimischen linken Multikulturalisten. Ob hier Toleranz und Dialog auf die Dauer die richtige europäische Antwort sind, ist zu bezweifeln. Sollte dieser Prozeß weiter an Kraft gewinnen, ist nicht der Ausgleich der Interessen, sondern der "Kampf der Kulturen" die unausweichliche Folge, es sei denn, die Europäer sind zur Selbstaufgabe bereit.

Betrachtet man unsere Lage in den konzentrischen Kreisen der eigenen Nation, Europas und der globalen Szenerie, so ist das Fazit deutlich: Ohne die Kräfte eines lebendigen Geschichtsbewußtseins werden sowohl die anstehenden inneren Reformen wie die Selbstbehauptung Europas im internationalen Kräftefeld nicht möglich sein. Die Hochwasserkata-strophen der letzten Jahre haben gezeigt, wie wichtig nationale Solidarität in der Krise ist. Auch der internationale Terrorismus läßt sich ohne sie nicht bekämpfen, und ohne sie läßt sich nichts gegen die kollektive Sinnkrise tun, die hinter den deutschen Reformschwierigkeiten steckt. "An die Opferbereitschaft aller appellieren kann nur, wer den Begriff der Nation zu Grunde legt und deren Existenz nicht schamhaft verschweigt, aus Angst, gegen die politische Korrektheit zu verstoßen" (Hans Christoph Buch). Es geht um die Normalisierung des historisch-politischen Haushalts der Deutschen als Voraussetzung eines sicheren individuellen wie kollektiven Selbstwertgefühls jenseits der Extreme von nationalistischer Überheblichkeit und nationalem Selbsthaß. Krisenlagen sind im 21. Jahrhundert nicht auszuschließen. Um in ihnen sich behaupten zu können, bedürfen Deutschland und Europa heute der festen und klaren Begründung in der eigenen historisch-politischen Identität.

Die Bürger verstehen nicht nur das Europa der "EU" nicht mehr: Komplizierte Entscheidungswege, Bürokratie, Fehlplanung und auch Korruption führen dazu, daß sich die Menschen von der Politik abwenden. Foto: vario-press


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