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20.03.04 / Auf Spurensuche in Ostpreußen / Erfolg und Mißerfolg lagen dicht beieinander

© Preußische Allgemeine Zeitung / 20. März 2004

Auf Spurensuche in Ostpreußen
Erfolg und Mißerfolg lagen dicht beieinander
Ein Reisebericht von Helmut Herles

Der eine wollte sein Heimatdorf Seßlacken bei Insterburg wiedersehen, der andere das Grab seines Vaters suchen, der irgendwann zwischen März und Mai 1945 als Soldat bei Königsberg umgekommen ist. Der eine erkannte sein Dorf nicht wieder, der andere erfuhr kaum mehr vom Schicksal seines Vaters, als er schon wußte. Aber für beide war ihre erste Ostpreußenreise nicht ver- geblich. Auch nicht für die anderen 50 Mitreisenden - fast alle Ostpreußen als dem Land ihrer Vorfahren oder der eigenen Herkunft verbunden.

Daß sie sich auf diese Spurensuche begeben konnten, ist ein Ergebnis der deutschen und europäischen Wende von 1989/90. Erst 1991 öffneten die Russen den von ihnen verwalteten Teil Ostpreußens, in dem die Hauptstadt Königsberg oder Insterburg liegt. Seither kann der aus Insterburg stammende Kölner Reiseunternehmer Fritz Ehlert regelmäßig mit diesen Touristen besonderer Art in seine Heimat fahren. Auch diesmal waren sie aus allen Gegenden der Bundesrepublik Deutschland zusammengekommen - aus Ost und West, aus Nord und Süd. Ossi/Wessi spielte dabei keine Rolle.

Das Kind aus Seßlacken ist heute Bürgermeister eines Dorfes in Thüringen, das eine "blühende Landschaft" geworden ist. Sein Dorf nördlich von Insterburg in den Fluß-auen der Inster nennen die Russen jetzt Pridoroschnoje. Der Gutshof, an den sich seine Kindheitserinnerung knüpft und in dem eine in England lebende ältere Mitreisende oft in den Ferien war, ist verfallen, Ruinenlandschaft zwischen halbwegs bestellten Feldern und verwilderten Wiesen, wird aber dennoch irgendwie genutzt.

Eine alte Frau führt zum überwucherten Friedhof, zeigt auf steinerne Einfassungen und sagt, daß dies einmal deutsche Gräber gewesen seien. Im äußersten Eck ein frisches Grab: "Hier werden Armenier beerdigt." Dort ist die einzige Inschrift zu finden, die an die deutschen Bewohner erinnert. Auf einem halb in der Erde versunkenen Grabstein sind der Vorname "Hermann" und die Lebensdaten zu entziffern. Der kräftige junge Taxifahrer, mit dem man, wie im russisch verwalteten Ostpreußen üblich, für acht Euro die Stunde durchs Land reist, richtet den Stein mit einem kräftigen Ruck wieder auf und säubert ihn sorgfältig mit einem großen grünen Blatt. Er ist zugleich Geschichtslehrer und Journalist einer der drei Zeitungen von Insterburg. Hier braucht man mehr als einen Beruf, wenn man durchkommen will. In vorzüglichem Deutsch sagt er: "Anders als früher, ehren wir diese deutschen Spuren. Sie sind Teil unserer Geschichte." Das entspricht den Beobachtungen im Museum in der Schloßruine von Insterburg, wo Jugendliche Zeugnisse der preußisch-deutschen Geschichte ausstellen und der größte Raum mit der schwarzen Elchschaufel auf weißem Grund so aussieht, als habe ihn die Landsmannschaft Ostpreußen eingerichtet. Das bekräftigt die russische Reiseleiterin und Deutsch-Dozentin an der 1544 gegründeten Königsberger Universität, Galina Panowa. Sie trägt sogar Gedichte in der ostpreußischen Mundart vor: "Wer das nich jesehn hat, hat gar nuscht jesehn."

"Ich glaube nicht, daß ich noch einmal hierherkomme", sagt der heutige Bürgermeister, der sein Haus nicht gefunden oder wiedererkannt hat. Aber er fand eine Verwandte. Auf dem Soldatenfriedhof von Insterburg, wo Deutsche und Russen "im Tode vereint" beerdigt sind, fragt eine junge Frau aus Albstadt, die später hinzugekommen ist, ob ein Herr Gernat unter den Reisenden sei. Sie sei eine geborene Gernat, und ihr Vater stamme von hier. Beide sind wahrscheinlich verwandt, aber wissen nichts Genaues. Sie finden auf den steinernen Gedenktafeln den Namen Wilhelm Gernat (1920-1943) und rätseln, was dieser familiär mit ihnen zu tun hat. Andere haben mehr gefunden.

Zwei Brüder, heute in Wuppertal und Uelzen zu Hause, haben auf Vermittlung des deutsch-russischen Pfarrers Wladimir Michelis ihr Elternhaus im Insterburger Stadtteil Sprindt wiedergesehen und dort bei einer aus Kasachstan stammenden Familie Kaffee getrunken. Aber sie schauen hinterher genauso betrübt aus wie ihr Vetter aus Bad Segeberg, als er zum ersten Mal vor seinem Geburtshaus in Trakehnen steht. Dort wird zwar einerseits im Museum mit einem deutschen Film die Tradition dieses Gestüts gezeigt, ist eine deutsche Schule wieder errichtet worden, heißt das Café mit deutscher Inschrift "Elch", ebenso die alte Apotheke "Alte Apotheke" - was aber nichts vom deprimierenden Eindruck nehmen kann, daß ein Teil der Gebäude noch immer verfällt, die berühmten Trakehner unterdessen in Georgenburg gezüchtet werden - einem erfreulichen Gegenbild des Wiederaufbaus. Dort sind die Russen bewußt zum deutschen Namen zurückgekehrt. Was in Trakehnen noch mehr bedrückt, sind die hier - wie in Insterburg - bettelnden Kinder oder die in die Einöde einer "Ulrich-von-Hutten-Straße" verbannten wenigen Familien von Rußlanddeutschen, die trotz ihrer schönen Häuser und gepflegten Gärten von einer Entwurzelung in die andere geraten sind. Keins ihrer Kinder könnte ohne weiteres von hier aus zu Fuß in die Schule nach Trakehnen gehen, keines kann noch Deutsch.

Unter den Reisenden sind auch Jüngere. Eine Juristin sucht mit ihrer Mutter und der Tante den Ort und den Hof ihres Vaters in Oberschleifen bei Insterburg. "Wir haben überhaupt nichts mehr gefunden. Der gesamte Ort, alle Anwesen waren ausgelöscht." Aber sie fügt in ihrem Reisetagebuch hinzu: "Ich komme wahrscheinlich wieder. Trotzdem das Land in schlechtem Zustand ist, haben mir die Menschen und auch die Aufbauarbeit in Teilen imponiert." Über die Menschlichkeit und Gastfreundlichkeit der russischen Gastgeber sind sich fast alle einig. Eine Frau aus Rostock: "Ich bin 1939 in Wismar geboren und habe Familie und Elternhaus behalten dürfen ... Traurig machen die grauen Dörfer und Städte und die alten, bescheiden dastehenden Leute, deren Schicksale man an den Augen ablesen kann. Hoffnung für dieses Land aber geben mir die Worte der alten Babuschka (Großmutter) unserer russischen Gastfamilie: Mir (Frieden) und Druschba (Freundschaft)".

Vielen ging es wie der Ärztin aus Thüringen. Sie hatte genaue Landkarten mitgebracht und mußte dennoch feststellen: "Wir fanden das Dorf, in dem mein Vater aufgewachsen war, seine Eltern und zahlreiche Geschwister lebten, nicht mehr vor. Es war dem Erdboden gleichgemacht worden." Manche waren positiv überrascht. Ein fröhliches Paar aus Schwaben fand das Haus der Großeltern in Ebenrode sogar mit frischer Farbe versehen: "Wir haben uns sehr gefreut, da unerwartet." Noch optimistischer äußerte sich ein junger Mann: "Wer weiß, wofür die Nachkriegsgeschichte gut war. So haben die Russen die wunderschöne Natur bewahrt." Widerspruch bei den Älteren: "Warum müssen die Russen überall in der Welt Getreide kaufen, wenn sie unsere frühere Kornkammer besitzen?"

Trotz allem wollen viele wiederkommen. Eine in Habichtswald bei Kassel lebende weißhaarige Dame schrieb sich Freude und Traurigkeit im heimatlichen Dialekt von der Seele: "Was meinen Se, was mein Herzche hipft, wenn wir iebere Jrenz sind ... An unser Flüßchen, wo wir als Kinderchen so jern jebadet haben, is kaum ranzukommen ... Aber de Menschen sind nett und freindlich. Kannst nischt Schlechtes drieber sagn." Da sie bald 80 werde, denkt sie, daß es vielleicht das letzte Mal gewesen sei, daß sie ihre Heimat gesehen habe. Fünfmal war sie seit 1991 dort: "Und was mach ich, wenn es wieder mit tausend Fäden zieht?"

Ironisch hilft sich die kurz vor dem Untergang der "Gustloff" über die Ostsee zunächst nach Schleswig-Holstein gelangte britische Staatsbürgerin. Sie trägt ein Gedicht vor, das sie auch zu Hause im deutsch-englischen Edelweiß-Club aufsagen will: "Ich wünscht, ich wär ne Hex. Ich wüßt schon, was ich tät. Ich schwing mich auf mein Besenstiel - hurrez - und auf es geht ... Die erste Station, das weiß ich schon, da unten ist, ich seh es schon, mein geliebtes Ostpreußenland." Sie hatte lange für diese Reise gearbeitet und gespart.

Der das Grab seines Vaters ver- geblich Suchende weiß nun wenigstens, wie die Orte, über die der Suchdienst des Roten Kreuzes zuletzt vom Sterben dieser deutschen Soldaten berichtet hatte, heute von den Russen genannt werden, und hat nun ein Bild von der Schönheit des Landes und dem Elend seines Untergangs, nachdem General Otto Lasch kapituliert hatte, den Hitler einen Tag danach in Abwesenheit zum Tode verurteilte, der noch jahrelang in russischer Gefangenschaft war und in Bonn starb. Der Suchende freut sich über jede deutsche Spur.

Vor dem neuen Denkmal Kants hofft er, daß das rollende "R" dieser Sprachmelodie nicht verklingen wird. Solange Ostpreußen sie in ihren Familien weitergeben und russische Königsberger so gut deutsch sprechen wie die Reiseleiterin, besteht hierfür eine reelle Chance. Wahrscheinlich hat Immanuel Kant mit dieser Klangfarbe gesprochen, wenn er seinen kategorischen Imperativ zitierte: "Handle so, daß die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Hätten genügend sich an diesen "Befehl" aus Ostpreußen gehalten, gäbe es noch heute das alte Königsberg und die Dörfer, über die Gras und Goldraute wachsen.

Rauschen: In dem schönen und vergleichsweise gepflegten Ostseebad ist es ziemlich leicht zu erkennen, daß die Geschichte des Landes der dunklen Wälder und kristall'nen Seen nicht erst mit der Übernahme der Verwaltung durch die Sowjets und die Polen begann. Foto: Ehlert


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