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03.04.04 / Vom Westen allein gelassen / Ost- und Mitteleuropa stoßen mit ihren Tragödien aus der Zeit des Kommunismus auf taube Ohren

© Preußische Allgemeine Zeitung / 03. April 2004


Vom Westen allein gelassen
Ost- und Mitteleuropa stoßen mit ihren Tragödien aus der Zeit des Kommunismus auf taube Ohren
von Carl Gustaf Ströhm

Ost ist Ost und West ist West - und sie kommen niemals zusammen. Dieser Ausspruch des Briten Rudyard Kipling kommt einem in den Sinn, wenn man den "Eklat" um die Rede der Exaußenministerin Lettlands auf der Leipziger Buchmesse (siehe Seite 25) bedenkt. Blitzartig wurde hier klar, daß sich zwischen dem Bewußtsein des Westens und jenem der ehemals von den Kommunisten unterdrückten Staaten und Völker ein tiefer Abgrund auftut, von dem niemand weiß, wie er je zu schließen wäre. Die ganze Frage des Zweiten Weltkrieges ist nicht geklärt. Dazu tritt in der westlichen Welt eine immer mehr um sich greifende Apathie, Interessenlosigkeit und Indolenz. Der alte Ausspruch, wonach einen langen Krieg nur wenige unbeschadet überstehen, einen langen Frieden aber niemand, hat sich wieder einmal bewahrheitet.

Auch bestätigt sich die Erkenntnis, daß ein Satter einen Hungrigen nicht verstehen kann. Die Völker des Ostens aber haben seit der Wende das Gefühl, daß der Westen sie mit ihren Tragödien und schweren Erinnerungen allein gelassen hat. Der Westen wiederum will seine Geschäfte machen und seinen Lebensstandard pflegen. Für die Aufarbeitung von Tragödien ist da kein Platz. Die EU-Aufnahmekandidaten werden mit der Verlockung betört, sie mögen sich doch als "kleine Tiger" an den allgemein gut laufenden Geschäften beteiligen - und die unerfreulichen "alten Geschichten" ruhen lassen. In diese ungeklärte Situation platzten die Worte der lettischen Exaußenministerin Sandra Kalniete - einer parteilosen Politikerin. So wie vielen ihrer baltischen Landsleute war auch Frau Kalniete die Tatsache aufgefallen, daß es im Westen, vor allem auch im wiedervereinigten Deutschland, die Tendenz gibt, nur noch von den Verbrechen des NS-Regimes zu sprechen und die nicht minder schlimmen Verbrechen des kommunistischen Systems zu bagatellisieren. Frau Kalniete meint hingegen, man dürfe die Beteiligung der Sowjets am Krieg gegen Hitler nicht dazu mißbrauchen, die unzähligen roten Untaten und Massenverbrechen an unschuldigen Menschen zu exkulpieren.

Vielleicht muß man aus diesen zahlenmäßig kleinen baltischen Nationen hervorgegangen sein und ihr schweres Schicksal geteilt haben, um diese Ausgangslage zu verstehen. Frau Kalniete ist hier die richtige Adresse - denn, wie sie selber sagt, ihre beiden Großväter sind im Archipel GULag gestorben - hinter Stacheldraht gestorben. Ihre Mutter verbrachte 16 Jahre in sibirischen Lagern. Dort kam die spätere Außenministerin 1952 zur Welt. 160.000 Letten seien von den Sowjets in die Tiefe Sibiriens deportiert worden. Ähnlich verhält es sich in Estland und Litauen. In Estland wurden im Frühsommer 1941 in einer einzigen Nacht 15.000 Esten - Angehörige eines Volkes von knapp einer Million Einwohnern - aus ihren Betten geholt und zu nächtlicher Stunde in Viehwaggons in Richtung Osten verschleppt. Auf Nimmerwiedersehen verschleppt wurde auch der größte Teil der Regierung, des Offizierskorps, der höheren Verwaltungsbeamten. Aber es traf auch einfache Bauern. Auf den Bahnhöfen aller drei Länder, die nun zu "Sowjetrepubliken" mutierten, kam es zu unvorstellbaren Szenen. Als die Verschleppten nach tagelangen Irrfahrten aus den Viehwaggons buchstäblich an die Luft gesetzt wurden, waren schon viele, vor allem Ältere und Kranke, an den Entbehrungen gestorben. Viele der Deportierten sollten die baltische Heimat niemals wiedersehen.

Die Deportationen wiederholten sich nach 1945 mehrfach - noch kurz vor Stalins Tod wurde der letzte dieser Transporte Richtung Sibirien abgefertigt. Neben diesen scheinbar wahl- und ziellosen Verschleppungen kam es zu zahllosen Verhaftungen und Folterungen in den berüchtigten GPU- und NKWD-Kellern, deren Reste zum Teil noch heute zu besichtigen sind. Frau Kalniete hat noch vor ihrer Zeit als Regierungsmitglied des neu erstandenen lettischen Staates in ihrem Buch "Mit Ballettschuhen im Schnee Sibiriens" ihre Kindheitserlebnisse veröffentlicht.

Die Ministerin spricht in diesem Zusammenhang von zahlreichen "unbekannten Tragödien", die gerade im Baltikum (aber auch in anderen osteuropäischen Ländern) der Aufarbeitung harren. Diese Tragödien sind bisher vom Westen weitgehend ignoriert worden - vielleicht, weil sie nicht in die politische Landschaft von heute passen?

Was der etablierte Westen bis heute nicht begreift, ist die Tatsache, daß sich im Verlauf des Zweiten Weltkrieges für die Bewohner West- und Osteuropas zwei vollkommen gegensätzliche Perspektiven auftaten. Wer zum Beispiel in Frankreich, Dänemark oder Holland lebte, konnte gewiß sein, daß am Ende die Amerikaner oder Briten die Deutschen besiegen. Danach würde das Leben so weitergehen wie vor dem Krieg.

In jenen Gebieten aber, die geographisch näher an der Roten Armee lagen, sah es ganz anders aus. Hier trat die Parole Stalins in Kraft, wonach der Sieger dem Unterlegenen (und allen, die sich auf dessen Territorium befanden) die eigene Gesellschaftsordnung - das heißt das kommunistische (sowjetische) System - aufzwingen werde. Das geschah in Osteuropa mit größter Rücksichtslosigkeit, bis hin zu Schauprozessen nach bekannter sowjetischer Manier. Der Blutzoll war unermeßlich. Das bekannte "Schwarzbuch des Kommunismus" spricht von mindestens 60 Millionen Opfern des Kommunismus weltweit. Alexander Solschenizyns "Archipel GULag" kommt zu ähnlichen Ziffern. Aus der Flut kommunistisch-stalinistischer Verbrechen sei hier stellvertretend der zu Beginn der 30er Jahre künstlich erzeugte Hunger in der Ukraine - eigentlich die Kornkammer Rußlands - genannt: Sechs Millionen ukrainische Bauern, die sich der Kollektivierung der Landwirtschaft widersetzen wollten, wurden durch diesen Hunger wissentlich und willentlich in einen qualvollen Tod getrieben. Übrigens hat Papst Johannes Paul II., der einer der wenigen ist, welche sich in der tragischen Geschichte des Ostens auskennen, dieser Tage der ukrainischen Kirchenmänner ehrend gedacht, die schon zu Beginn der sowjetischen Ausrottungsmaßnahmen in den GULag weggeschleppt wurden und niemals zurückkehren sollten. Die vom Papst schon zu Beginn seines Pontifikats aufgestellte Regel, er werde für jene Völker sprechen, die bisher schweigen mußten, hat also nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt.

Über den lähmenden Schrecken, welche die Rote Armee damals über weite Gebiete Ost- und Mitteleuropas verbreitete, können sich nachgeborene Generationen keine Vorstellung machen. Es ging dabei nicht nur um jene Länder, die mit den Deutschen irgendwie verbündet oder verbandelt waren. Als in Estland die Rote Armee die übrigens weitgehend von estnischen Soldaten verteidigte Narwa-Front durchbrach, flüchteten 60.000 estnische Bürger, eingedenk der Erfahrungen mit den Deportationen, zum Teil auf nicht seetüchtigen Booten über die Ostsee nach Schweden. Viele ertranken.

Der lettischen Exaußenministerin gebührt Dank, daß sie den Anstoß dazu gab, über viele blinde Flecken auf unserer geistigen und seelischen Landkarte nachzudenken. Es kann ihr gar nicht darum gehen, die NS-Verbrechen zu relativieren. Schließlich begann für Letten wie für Esten und Litauer die Tragödie mit dem Hitler-Stalin-Pakt, der das Baltikum an die Sowjets auslieferte.

Noch eine Botschaft - oder besser einen Wunsch - hat uns die Exministerin übermittelt: Sie meint, daß alle europäischen Völker einander "in gleicher Augenhöhe" gegenübertreten sollten. Deshalb sollte frei und offen über die unglaublichen Verbrechen gesprochen werden, die an den baltischen Völkern begangen wurden. Diese Völker waren und sind viel zu klein, um irgend jemanden zu "bedrohen". Das künftige Europa kann keinen Erfolg haben, wenn an seinem Beginn "Denkverbote" stehen sollten. Es geht um historische Wahrheit und darum, daß jeder mit seinem eigenen Schicksal fertig werden muß. Das gilt für alle - auch für die Balten (und nicht nur für sie).

Politische Häftlinge beim Bau des Fergana-Kanals 1939 in Turkmenistan: Millionen Menschen starben in Stalins Lagern. Die Verarbeitung dieser Zeit steht bis heute noch aus. Foto: keystone


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