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03.04.04 / Kanzler der Großen Koalition / Vor 100 Jahren kam Kurt Georg Kiesinger in Ebingen zur Welt

© Preußische Allgemeine Zeitung / 03. April 2004


Kanzler der Großen Koalition
Vor 100 Jahren kam Kurt Georg Kiesinger in Ebingen zur Welt
von Ansgar Lange

Kurt Georg Kiesinger ist von seinen Zeitgenossen und von der Nachwelt mit Klischees behaftet worden. Der Tübinger Politikprofessor und Publizist Theodor Eschenburg attestierte ihm "zeremonielles Gehabe" und gab die böse Floskel vom "parfümierten Schwaben" weiter. Die hysterisch veranlagte deutsch-französische Journalistin Beate Klarsfeld und der gern als großer Moralist auftretende Heinrich Böll stempelten das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger gleich zum Schreibtischtäter ab. Der politisch blauäugige Philosoph Karl Jaspers hielt die Kanzlerschaft Kiesingers für "eine Beleidigung". Ein Besuch des wohl gebildetsten Kanzlers unserer Republik bei dem verfemten Juristen Carl Schmitt im sauerländischen Plettenberg genügte der DDR im Jahr 1967, um in einem "Graubuch" das Ausland vor den neonazistischen Gefahren in der Bundesrepublik zu warnen. Angesichts dieser Fülle von negativen (Fehl-)Urteilen konnte sich die Sichtweise des konservativen Neuzeithistorikers Klaus Hildebrand nicht durchsetzen. Der ansonsten betont nüchtern argumentierende Bonner Ordinarius würdigte die Leistung des Kanzlers der Großen Koalition in seinem Standardwerk "Von Erhard zur Großen Koalition 1963 bis 1969" in für seine Verhältnisse geradezu pathetischen Tönen.

Kommenden Dienstag wäre Kurt Georg Kiesinger 100 Jahre alt geworden. Vielen Zeitgenossen ist der Mann, der die Kanzlerwürde "wie einen Hermelin zu tragen" verstand, nicht mehr präsent. Die politisch Korrekten, welche mit dem Mut und Eifer der Nachgeborenen über die Generation der Großväter zu Gericht sitzen, denken bei Nennung seines Namens wahrscheinlich - "Faschismus ad portas!" - nur an den denkwürdigen 7. November 1968, als besagte Beate Klarsfeld den CDU-Parteitag in der Berliner Kongreßhalle dazu nutzte, um mit dem Ruf "Nazi, Nazi" den völlig unvorbereiteten Kurt Georg Kiesinger von hinten zu ohrfeigen, und damit einen trefflichen Beitrag zur Diskussionswilligkeit selbsternannter "Antifaschisten" lieferte. Es lohnt sich aber, möglichst unvoreingenommen und aus der Distanz zu den damaligen Geschehnissen heraus Werk und Wirkung Kurt Georg Kiesingers noch einmal zu beleuchten. Er war kein so starker Kanzler wie Adenauer oder Schmidt, dank seines noblen Auftretens und seiner umfassenden humanistischen Bildung konnte die Bundesrepublik mit ihm jedoch wie mit keinem anderen seiner Amtskollegen "Staat machen".

Kurt Georg Kiesinger wurde am 6. April 1904 im schwäbischen Ebingen in ärmlichste Verhältnisse hineingeboren. Schon mit einem halben Jahr verlor er die Mutter, wuchs kurzzeitig bei den Großeltern und dann - nach der erneuten Verheiratung des Vaters - mit sechs Stiefgeschwistern auf. In dem kleinen Büchlein "Schwäbische Kindheit" hat der rund 60jährige seinen Vorfahren und seiner Heimat ein bewegendes literarisches Denkmal gesetzt. Ein spendabler Fabrikant ermöglichte dem jungen Kurt Georg ein Studium der Rechte. Das Dritte Reich "überwinterte" Kiesinger, der aus pragmatischen Gründen von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP war, als Rechtsanwalt in Berlin. Im Jahr 1940 wurde Kiesinger als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in der Rundfunkabteilung des Reichsaußenministeriums dienstverpflichtet. Drei Jahre später rückte er zum stellvertretenden Abteilungsleiter auf. Kiesinger trat ins Auswärtige Amt ein, um dem Militärdienst zu entgehen. Bereits 1940 hatte ein Gestellungsbefehl zur Wehrmacht vorgelegen.

Gleichsam neben seiner Rechtsanwaltstätigkeit hielt er ein Repetitorium ab, dem einige "Kiesinger-Schüler", die ihn als "Meister" bezeichneten, entsprungen sind. Ein prominentes Beispiel ist der spätere SPD-Bundestagsabgeordnete und Bundesverfassungsrichter Martin Hirsch, der sich mit Stolz dazu bekennen sollte, ein "Kiesinger-Schüler" zu sein: "Sicher aber ist, ein ‚Nazi' war Kurt Georg Kiesinger ganz gewiß nicht. Er hat den Nationalsozialismus, wenn auch aus ganz anderer Sicht, genauso verachtet wie ich. Es mag sein, daß manche Politiker von Zeit zu Zeit eine Ohrfeige verdienen. Kurt Georg Kiesinger hat seine Ohrfeige eindeutig zu Unrecht bekommen."

Nach 1945 faßte Kiesinger, der rund 18 Monate automatischer Haft im Internierungslager Ludwigsburg hinter sich bringen mußte, rasch wieder Fuß. 1948 wurde er in Tübingen als Rechtsanwalt zugelassen. Gebhard Müller gewann ihn für die CDU im späteren "Musterländle". Von 1949 bis 1958 saß Kiesinger im Bonner Bundestag. Dort gehörte "König Silberzunge" rasch zur "rednerischen Spitzengarnitur" (Franz Josef Strauß) der Union. Seine eigentliche Domäne war die Außenpolitik. Insbesondere auf diesem Gebiet war er der Debattenstar der Unionsfraktion. Konrad Adenauer hielt den gutaussehenden, rhetorisch versierten, literarisch gebildeten und gewandt auftretenden Schwaben, der wie ein Grandseigneur wirkte und vielleicht gerade deshalb gegen den Kult der Mittelmäßigkeit der bundesrepublikanischen Gesellschaft verstieß, für zu durchsetzungsschwach, so daß der sicherlich ministrable Kiesinger mit keinem Ministeramt betraut wurde.

In den Jahren 1958 bis 1966 schien der überparteilich auftretende "Tory", ein Politiker klassisch liberal-konservativen Zuschnitts, endgültig "in die Provinz" abgeschoben zu sein. Als Nachfolger von Gebhard Müller amtierte Kiesinger als ungemein erfolgreicher Ministerpräsident des vorbildlichen Bundeslandes Baden-Württemberg, wo er nicht zuletzt in der Bildungs- und Kulturpolitik Maßstäbe setzte. Die Gründung der Universität Konstanz geht auf diesen Ministerpräsidenten zurück. Kiesinger, der auch ein hervorragender Bundespräsident geworden wäre, amtierte als ein "Landesvater von fast barockem Glanz" (Süddeutsche Zeitung). Im Jahr 1966 galt Kiesinger eigentlich als "ein Außenseiter der Bonner Szene" (Klaus Hildebrand). Aber gerade dies prädestinierte ihn - und nicht etwa die "Insider" Rainer Barzel, Eugen Gerstenmaier oder Gerhard Schröder -, die Nachfolge von Ludwig Erhard anzutreten. Kiesinger, der gut mit Wehner und weniger gut mit seinem Vizekanzler Brandt konnte, war der ideale Kanzler einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, da er nicht autoritär und kantig, sondern vermittelnd und präsidial auftrat. Entgegen der landläufigen Meinung war er der Kanzler einer aktiven Koalition, welche die Finanz- und Wirtschaftspolitik wieder ins Lot brachte und wichtige innenpolitische Reformen anstieß (Parteiengesetz von 1967, Reform des Strafvollzugs mit dem Gedanken der Resozialisierung, Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, verbesserte Maßnahmen zur Aus- und Fortbildung etc.). Außerdem wurde die von "Intellektuellen", Gewerkschaften und Sozialdemokraten einstmals als faschistoid verteufelte Notstandsgesetzgebung auf den Weg gebracht. Gegenüber dem Ostblock setzte diese Koalition erste zaghafte Signale der Entspannung, die dann unter dem Kanzler Willy Brandt mit tatkräftiger Hilfe der neuen Scheel-F.D.P. in eine neue Deutschland- und Ostpolitik umfunktioniert wurde, die deutsche Interessen bewußt hintanstellte.

Obwohl die Arbeit des Bundeskanzlers mit 46,1 Prozent der Stimmen für die Union bei der Wahl vom 28. September 1969 eigentlich bestätigt wurde, schlüpfte die SPD nun in das Koalitionsbett mit der F.D.P., die unbedingt wieder an die Fleischtöpfe der Macht wollte. Zwar blieb Kiesinger noch bis 1971 Parteivorsitzender der CDU, die Rolle des Oppositionsführers übernahmen aber recht bald Rainer Barzel und Helmut Kohl. Obwohl er noch bis 1980 im Bundestag saß, nahm Kiesinger doch innerlich Abschied vom umtriebigen Bonn und genoß die Ruhe und Abgeschiedenheit in der schwäbischen Provinz. Sein Hauptinteresse galt jetzt nicht mehr dem Hauen und Stechen in der aktuellen Politik, sondern der erneuten Lektüre von Platon, Descartes und Tocqueville. Insbesondere mit Blick auf die beiden letzten Amtsträger fällt auf, mit wie viel Würde und Stil Kurt Georg Kiesinger seine politischen Ämter, vor allem auch das Kanzleramt ausgefüllt hat. Leider erst im Herbst 2004 erscheint die erste umfassende Biographie des "elder statesman" aus der Feder des jungen Historikers Philipp Gassert. Es bleibt zu hoffen, daß dem Kanzler, dem unzählige Klischees angedichtet worden sind, nun zumindest postum wissenschaftliche Gerechtigkeit widerfährt.

Ein Bundeskanzler der Klischees: Als "Nazi" wurde der 1988 verstorbene Politiker Kurt Georg Kiesinger ebenso bezeichnet wie als "parfümierter Schwabe" mit "zeremoniellem Gehabe", "König Silberzunge", "Landesvater von fast barockem Glanz" und "Außenseiter der Bonner Szene". Foto: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland


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