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10.04.04 / Das Buch der Bücher

© Preußische Allgemeine Zeitung / 10. April 2004


Das Buch der Bücher
von Gabriele Lins

Es gab einmal ein Osterfest, das war ganz anders als die Feste, die man sonst kennt, denn jeder - ob jung oder alt - hatte am Ostermorgen ein Gebetbuch vor seiner Tür liegen. Es war kostbar, denn es zeigte im Gegensatz zu den herkömmlichen Gebetbüchern viele Bilder in leuchtend bunten Farben, sogar mit Blattgold verziert, und seine Schrift war auserlesen wie in den Bibeln aus früheren Jahrhunderten.

Am nächsten Tag konnte man es schon im Fernsehen hören: Die Welt stand Kopf, weil die Menschen gern wissen wollten, wer sie so reich beschenkt hatte, ohne daß es jemandem aufgefallen war. Der eine oder andere hatte sich tatsächlich ein Gebetbuch gewünscht und freute sich nun dar-über; die meisten Leute hätten sich ein solch teures nie kaufen können. Aber auch denen, die nicht in die Kirche gingen, war es sehr recht, weil es so außergewöhnlich war. "Wer kennt den geheimnisvollen Spender der Gebetbücher?" fragten nun täglich die Nachrichtensprecher, aber niemand wußte etwas. Die Zeit ging vorüber, und das Geheimnis wurde nicht gelüftet. Real waren nur die Gebetbücher, die die Gottesdienstbesucher in aller Welt fleißig benutzten, weil jeder sie in seiner eigenen Sprache lesen konnte. Selbst diejenigen, die nicht religiös waren, warfen sie nicht weg, sondern stellten sie in ihre Regale und freuten sich an ihnen, weil sie wirkliche Kunstwerke darstellten.

Das Weihnachtsfest stand bevor. Kurz vor dem Heiligen Abend gab sich der geheimnisvolle Gebetbuchverteiler im Rahmen einer Fernseh-gala zu erkennen. Der lang Gesuchte war ein älterer, gut betuchter Herr, der die Idee hatte, mit seinem Geld noch etwas Sinnvolles zu tun, und so kam er auf Idee, die Bücher auf seine Kosten drucken und verbreiten zu lassen. Wenigstens erklärte er das so. "Warum haben Sie denn ausgerechnet Gebetbücher unter die Leute gebracht?" fragte der Moderator, "und wie haben Sie es nur geschafft, sie so schnell an so viele Menschen zu verteilen, ohne daß irgend jemand etwas mitkriegt? Das erscheint mir wie ein Wunder!" Der als Weihnachtsmann gekleidete Mann lächelte fein und wischte sich mit einem durchsichtigen Taschentuch, das wie Nebelgespinst aussah, die Stirn. "Ganz einfach", seine Stimme war tief und klangvoll, "ich wollte, daß die Menschen wieder beten. Sie brauchen das Gebet so nötig, sie wissen es nur nicht."

In dem allgemeinen Festtrubel im Saal verschwand der freundliche Spender, lief die Treppe hinunter ins Freie und bestieg einen weißen Esel, der gerade angaloppiert kam und ihn mit freudigem "Iah" begrüßte. Mit wunderbarer Leichtigkeit erhoben sie sich in die klare Luft hinauf. Die Leute, die draußen standen, sahen erstaunt, wie der Weihnachtsmann seinen roten Mantel abwarf, der sich wie von Geisterhand gezogen langsam ausbreitete und als Abendröte über den ganzen Himmel flammte, und dann verschwanden Tier und Reiter. An diesem Abend nahmen viele ihre wunderschönen Bücher in die Hand, betrachteten die bunten Bilder und fingen an zu beten und die Lieder zu singen, von denen sie manche noch aus ihrer Kindheit kannten.

Da war auf einmal eine große Freude und Stille unter den Menschen, es schien, als hielte die Welt einen Augenblick den Atem an.


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