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17.04.04 / Die Kraft des Geistes / Professor Dr. Eberhard G. Schulz über den "Königsberger Weltweisen" Kant

© Preußische Allgemeine Zeitung / 17. April 2004


Die Kraft des Geistes
Professor Dr. Eberhard G. Schulz über den "Königsberger Weltweisen" Kant

Der Körper Kants war nur 1,56 Meter groß. Aber die Kraft seines Geistes und die Ausdauer, mit der er von dieser Kraft Gebrauch gemacht hat, scheint alles zu überragen, was vor ihm in der Geschichte des Denkens der Menschheit anzutreffen war.

Man kann die Singularität Kants in seinen Lehren sehen: in der Subjektivität seiner Erkenntnistheorie, nach der es in Gestalt der Anschauungsformen Raum und Zeit sowie der Kate-gorien des reinen Verstandes Bedingungen unserer Erkenntnis der Wahrheit gibt, die in unserem Erkenntnisvermögen, also im erkennenden Subjekt selbst, anzutreffen sind. Man kann sie in seinem formalen Prinzip der Ethik, dem kategorischen Imperativ, sehen, der uns unsere Verbindlichkeiten dem Inhalt nach bestimmen läßt und gleichzeitig allein ausreicht, uns zur Erfüllung dieser Verbindlichkeiten zu motivieren. Man kann sie in seiner Geschichtsphilosophie sehen, nach der das Ziel der Geschichte durch die moralische Forderung einer unverrückbar am Recht orientierten Staatlichkeit ebenso wie einer Friedensordnung im Verhältnis zwischen den Staaten bestimmt ist. Zumindest diese Lehrstücke, die sich aus Kants Denken in den Jahren von 1770 bis 1798 ergeben haben, zeichnen den "Königsbergischen Weltweisen" als eine einzigartige Erscheinung unter den Philosophen aus. Das heißt freilich nicht, daß diese Lehren für alle Zeiten Bestand haben müssen. Sie sind aus dem Versuch entstanden, auf Fragen, die zu stellen das denkende Wesen Mensch nicht vermeiden kann, und auf Fragen, die aus Lösungsversuchen entstanden sind, überzeugende Antworten zu geben.

So ist das Denken Kants ein Beitrag zum Denken der Menschheit, der durch neue Beiträge, die zu anderen Resultaten führen, überholt werden kann. Das Großartige seiner philosophischen Leistung besteht gerade darin, daß er bis zur Erschöpfung seiner Denk- und Aussagefähigkeit um Verbesserung seiner Lehren bemüht gewesen ist. Die Resultate seines Philosophierens sind Ergebnisse eines diskursiven und nicht eines intuitiven Verstandesgebrauchs. Hier wird in genau bestimmten Begriffen gedacht und aufgrund von für gesichert gehaltenen Prämissen geschlossen. Hier ist kein Platz für Meinungen oder Wahrscheinlichkeiten. Aber auch ein genau bestimmter Begriff kann sich als unbrauchbar und ein gültiger Schluß als unter falschen Voraussetzungen erzielt erweisen. Alles Denken der Menschheit ist durch die Überwindung von Irrtümern zur Wahrheit vorgedrungen.

In einer Fußnote zu seiner Streitschrift gegen den Hallenser Wolffianer J. A. Eberhard, "Über eine Entdeckung, nach der alle Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll", lesen wir: "Wenn es jemandem einfiele, den Cicero zu tadeln, daß er nicht gut Latein geschrieben habe: so würde irgendein Scioppius (bekannter grammatischer Eiferer) ihn unsanft, aber doch mit Recht in seine Schranken weisen; denn was gut Latein sei, können wir nur aus dem Cicero lernen. Wenn jemand aber einen Fehler in Platons oder Leibnizens Philosophie anzutreffen glaubte, so wäre der Eifer darüber, daß sogar an Leibnizen etwas zu tadeln sein sollte, lächerlich. Denn was philosophisch-richtig sei, kann und muß keiner aus Leibnizen lernen, sondern der Probierstein, der dem einen so nahe liegt wie dem anderen, ist die gemeinschaftliche Menschenvernunft, und es gibt keinen klassischen Autor der Philosophie." Und am Schluß dieser Schrift, in der es eben darum geht, den Nachweis zu liefern, daß keine Rede davon sein kann, als hätten Leibniz sowie Christian Wolff und seine Schule, zu der auch Johann August Eberhard gehört, alles bereits gesagt, was an der Kantischen Erkenntnistheorie richtig sei, bezieht Kant diesen Gedanken auf seine eigene Philosophie: "Übrigens mag die Kritik der reinen Vernunft, wenn sie kann, durch ihre innere Festigkeit sich selbst weiterhin aufrechterhalten. Verschwinden wird sie nicht, nachdem sie einmal in Umlauf gekommen, ohne wenigstens ein festeres System der reinen Philosophie, als bisher vorhanden war, veranlaßt zu haben."

So befinden wir uns also mit Kant in Übereinstimmung, wenn wir es als das Entscheidende bezeichnen, daß wir an seiner Philosophie auch nach seiner alles bisherige Denken überwindenden Wende ein Beispiel haben für den ungebrochenen Drang, zu neuen Ufern der Wahrheit vorzudringen. Gewiß gebietet das, was er uns als seine Lehre vorstellt und präzise begründet, Achtung und Anerkennung. Es handelt sich bei ihm nicht um einige geistreiche Ideen, die imponierend sind und es verdienen, im Kuriositätenkabinett für Produkte menschlichen Geistes der Nachwelt überliefert zu werden. Es ist schon ein Gedankengebäude, das durch seine Totalität wie seine Prägnanz faszinierend und der Sache nach ein einzigartiger Versuch ist, aus den Resultaten des abendländischen Denkens von zweieinhalb Jahrtausenden eine abschließende Konsequenz zu ziehen.

Übertroffen aber wird diese Großartigkeit des Kantischen Denkens durch die wache Selbstkritik und Aufgeschlossenheit für die Gedanken anderer, wie sie sich in den Fortschritten seines Denkens nach Abfassung der "Kritik der reinen Vernunft" zeigt. Als er dieses gewaltige Werk seinen Zeitgenossen als harte Nuß zu knacken gab, war er selbst der Meinung, sein kritisches Geschäft damit abgeschlossen zu haben und nunmehr zu den systematischen Werken auf dem Felde sowohl der Naturphilosophie als auch besonders der Moralphilosophie übergehen zu können. Da er aber kurz nach dem Erscheinen der "Kritik der reinen Vernunft" einsah, daß der von ihm als für die Moralphilosophie ausreichend angesehene Begriff einer bloß komparativen Freiheit den menschlichen Willen zu einer bloßen Marionette des Naturmechanismus machen würde, ergab sich die Notwendigkeit, unter Zugrundelegung eines absoluten Freiheitsbegriffes, der die Autonomie des Willens ermöglicht, seine "Kritik der praktischen Vernunft" zu schreiben. Aus dem Grunde, weil er nun im Gegensatz zum Jahre 1781 ein regulatives Prinzip a priori für das ästhetische Wert-urteil für möglich hielt, ergab sich die Notwendigkeit, seine "Kritik der Urteilskraft" als Schlußstein seines kritischen Unternehmens hinzuzufügen. Durch derartige Positionsänderungen hat Kant selbst ein Beispiel dafür gegeben, daß die Aufgabe des Denkens niemals als gänzlich abgeschlossen angesehen werden kann.

Dadurch wird Kants Philosophie auch dann noch vorbildlich für alles vernünftige Denken sein, wenn das Gebäude seiner kritischen Philosophie selbst in den Grundrissen durch ein neues, vielleicht tatsächlich für immer haltbares Gedankengebäude ersetzt sein sollte.


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