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17.04.04 / Armes reiches Land / Auf Konsum ausgerichtete Gesellschaft vernachlässigt Kinder

© Preußische Allgemeine Zeitung / 17. April 2004


Armes reiches Land
Auf Konsum ausgerichtete Gesellschaft vernachlässigt Kinder
von G. Loeck

Die zivilisierten Völker der westlichen Welt sind zunehmend von neurotischer Verwahrlosung bedroht, warnen Lehrer, Ärzte, Polizisten, besorgte Eltern. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht durch abschreckende Beispiele von zunehmender Brutalität, Zerstörungswut, Passivität, Gefühlskälte von Jugendlichen in den Medien berichtet wird. Die Ursachen der dabei auftretenden Verhaltensstörungen vermutet man in wachsender Bindungs- und Orientierungslosigkeit, im Aufeinandertreffen schwer vereinbarer Kulturen sowie im mangelnden Erziehungskontakt untereinander bereits in der frühen Kindheit. Antiautoritäre Erziehung und eine weitgehend spaßbetonte Bildungspolitik nach dem Motto "Abitur für alle" haben sich längst als falsch erwiesen.

Scharfsichtig beziehungsweise nachdenklich sollten besonders die Fehlentwicklungen unter extrem schlechten sozialen Bedingungen machen, wenngleich auch die verwöhnten Hätschelkinder der Neureichen nicht völlig übersehen werden dürfen. Bei Tieren, die von vornherein ohne elterliche Fürsorge und Erziehung aufwachsen, sprechen die Biologen von Kaspar-Hauser-Tieren nach dem Findelkind, das in einem dunklen Behältnis aufgewachsen sein soll und dessen geistige Entwicklung zeitlebens stockte. Monotones periodisches Zucken und Schaukeln, verringerte Aufmerksamkeit gegenüber anderen Lebewesen, Ins-Leere-Starren, übersteigerte Ängstlichkeit, aber auch Aggressionsbereitschaft sind häufig beobachtete Krankheitssymptome bei Heimkindern, die sich als abgegeben, ungewollt, ungeliebt sehen. Auch sie sind im Sinne Tucholskys Kaspar-Hauser-"Tiere". Aber sind nur sie es?

Selbst wenn die Heimschwestern sich aufopfernd um sie kümmern, sind individuelle und sozialhygienische Schäden nicht zu verhindern. Der Grund dafür ist, daß wechselnde Personen immer nur zeitweilig anwesend sind, um das Baby zu füttern beziehungsweise zu betreuen. Tier- und Menschenbaby brauchen eine feste, verläßliche Bezugsperson, die nicht unbedingt die Mutter sein muß. Die Versuchsreihen von Konrad Lorenz mit Graugänsen haben eindrucksvoll bewiesen, daß selbst ein Mensch für Graugänse zur Bezugsgestalt werden kann. Maßgebend ist der erste Eindruck. Prägung ist normalerweise nicht rückgängig zu machen. Nur so ist erklärbar, daß ein Kind auch schlechte, grausame Eltern liebt.

Die Natur sorgt dafür, daß jedes Tier seine "Prägemutter" findet. Aber was tut der angeblich dem Tier überlegene Homo sapiens? Die Großfamilie ist für viele aus der Mode gekommen, Geschwister, Großeltern beispielsweise fallen somit für die Kindererziehung oft aus. Väter und Mütter sind weitgehend vom Beruf absorbiert. Die materielle Lebensqualität muß bezahlt werden. In den meisten Fällen lieben auch sie ihre Kinder, trotzdem fehlt es ihnen oft an Zeit und Kraft für ihren Nachwuchs. Fehlende Nestwärme und Ansprechbarkeit, seelisches Verhungern bei materiellem Reichtum führen - so Christa Meves - später zur Ablehnung von Ordnung, zu übersteigerten Ansprüchen, Kontaktunfähigkeit, Rachsucht und schneller Resignation. Daraus folgert, daß Erziehungs- und Bildungspolitik bei der Familie beginnen muß. Wer Chancengerechtigkeit will, muß beim Start und nicht erst auf der Gegengeraden ansetzen. In der Frühphase menschlicher Entwicklung lernen Kinder besonders viel. Bei vernachlässigter Prägung verkümmern die angeborenen Anlagen; Mut, Vertrauen, Neu-

gierde, Lernbereitschaft gehen verloren. Normal aufgewachsene junge Hunde lernen viermal so schnell wie isoliert aufgewachsene, sich sozial zu verhalten. Versuche haben ergeben, daß Kaspar-Hauser-Tiere später häufig kein normales Paarungsverhalten zeigen, darüber hinaus sich als unfähig zur artgerechten Aufzucht von Jungen erweisen.

Überträgt man die Gesetze der Natur auf den Menschen, so verstärkt sich die Einsicht, daß Staat und Gesellschaft vorrangig den Müttern helfen müssen, die in unserer Gesellschaft in der Regel die Erziehungsaufgabe wahrnehmen. Frauen, Ehepaare, Familien, die auf Erwerbstätigkeit auch der Frau angewiesen sind, wie in anderen Ländern zu unterstützen, um die Frau wenigstens vorübergehend für die Erziehungsaufgabe freizustellen, ist erfolgversprechender als die Einrichtung immer neuer Aufbewahrungsplätze oder der derzeit eifrig betriebene Ausbau von Vorschulen. Müttern, die aus Freude am Beruf, aus Gründen von Selbstverwirklichung oder Emanzipationsstreben gegen Bezahlung arbeiten, sollte die Wiedereingliederung in den Beruf erleichtert werden, damit mehr als bisher es wagen, eine "Prägepause" zu nehmen. Die "Nestwärme" in der Familie ist für die kleinen Erdenbürger unersetzlich. Wer Erziehung einfordert, muß zunächst die Eltern beeinflussen. Dies gilt nicht nur im Kleinkind- oder Kindesalter. Das Streben nach immer neuen, überaus modernen, aber "toten" Schulfabriken, zu ideologisch gewünschten Gesamtschulkomplexen, in denen zwangsläufig weitgehende Anonymität die überschaubaren, vertrauten Einheiten unserer Schulzeit ersetzt, stimmt nachdenklich. Das mit großem Brimborium eingeführte Kurssystem an weiterführenden Schulen, bei dem von Kurs zu Kurs Schüler und Lehrer jeweils wechseln, erinnert nicht mehr an den alten Klassenverband mit festem Klassenraum und vertrauten Mitschülern. Die einst klaren Bezüge im Elternhaus, in der Schule wirken aufgebrochen.

Daß die Unverbindlichkeit und das Fehlen von vielen einst lebenswichtigen Bausteinen in einer vorrangig auf materielle Werte und Egoismus ausgerichteten Gesellschaft die rasche Zunahme von Kas-par-Hauser-Typen fördern, macht betroffen, da es bei dem Reichtum in diesem Land nicht zwangsläufig so sein müßte.

Spielende Kinder: Heranwachsende brauchen eine leitende Hand, um sich im Leben besser zurechtzufinden.


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