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24.04.04 / Dünnbrettbohrer am Werk / Niveaulose Brüsseler "Porträts" der EU-Neulinge

© Preußische Allgemeine Zeitung / 24. April 2004


Dünnbrettbohrer am Werk
Niveaulose Brüsseler "Porträts" der EU-Neulinge
von Dietmar Stutzer

Die Erinnerung an jenen bemerkenswerten Vorfrühlingsspaziergang von 1991 mit meiner damals vierjährigen Tochter und dem Hund im Brüsseler Heysel-Park ist noch frisch.

Das liegt an einem Erlebnis von bleibender Aussagekraft: Die Tochter sprach damals vor allem ihre Muttersprache Polnisch; das hörte ein Mann mittleren Alters, der mit seinen zwei Buben an uns vorbeiging, und wollte wissen, was das denn für eine Sprache sei. Als er es erfahren hatte, wollte er wissen, ob Polen "vor oder hinter Berlin" liege. Im Laufe des Gespräches ergab sich, daß der Mann Rektor einer 16-klassigen Elementarschule in der Nachbarprovinz Ostflandern war.

Sollte er gut zehn Jahre später EU-Beamter geworden sein? - Fast könnte man es vermuten angesichts der ungenügenden Qualität der kürzlich von der Generaldirektion Presse und Kommunikation der EU-Kommission veröffentlichten "kulturellen und historischen Porträts der Beitrittsländer".

Ein paar Beispiele mögen im Folgenden den miserablen Informationsstand, ja die nicht selten skandalöse Ignoranz der verantwortlichen Beamten zeigen. So heißt es zu:

- Tschechien: "Nach dem großen Einfluß auf die europäische Geschichte in Gestalt des Königreiches Böhmen und 300 Jahren Zugehörigkeit zur Habsburger Monarchie gehörte die moderne Tschechoslowakei vor dem Zweiten Weltkrieg zu den zehn größten Industrienationen.

Neben dem Theaterautor und Präsidenten Vaclav Havel zählten zu den berühmten Tschechen der heilige Wenzel, der Glaubensreformator des 15. Jahrhunderts Jan Hus, der Renaissancelehrer Comenius, der Jugendstilmaler des 19. Jahrhunderts Alfons Mucha, die Komponisten Dvorak und Smetana, Athleten wie Emil Zatopek und Martina Navratilova sowie Milos Forman, der oskargekrönte Regisseur mit Filmen wie ‚Einer flog übers Kuckucksnest' und ‚Amadeus'."

- Lettland: "Lettlands Hauptstadt Riga wurde 1201 vom Deutschen Orden gegründet. Seit diesen frühen Tagen pflegen die Letten Kontakte zum Rest der Welt -Ventspils (dt.: Windau; Anm. d. Verf.) ist einer der alten Hansehäfen. Seit Lettland 1991 seine Unabhängigkeit zurückerhielt, hat es diese Verbindungen durch Handel, Politik und Kontakte über so unterschiedliche Figuren wie den Radfahrer Romans Vainsteins, den olympischen Goldmedaillenturner Igors Vihrovs, die Popsängerin Clinda Leen und den Musiker Raymond Pauls engagiert erneuert."

- Litauen : "(...) Litauen war einst Zentrum eines Reiches, das sich fast bis zum Schwarzen Meer erstreckte, ist die Heimat des Schachgroßmeisters Aloyas Kveinys und des Radfahrers Raimondas Rumsas und will nun Teil eines kontinentweiten Europas sein."

- Ungarn: "Franz Liszt, Bela Bartok und Zoltan Kodaly gehören zu den berühmten Musikern dieses tausendjährigen Staates, der Schauplatz eines bewaffneten Aufstandes gegen den Stalinismus war und an dessen Grenze zu Österreich der Eiserne Vorhang durchschnitten wurde.

Ungarn war ferner die Heimat von Ladislao Jose Biro, dem Erfinder des Kugelschreibers, dem Mathematiker des 19. Jahrhunderts Janos Bolyai und Tivadar Puskas, der 1879 in Paris die erste europäische Telefonzentrale einrichtete."

- Polen: "Polen nahm bereits vor dem Mittelalter an den wichtigsten kulturellen Entwicklungen Europas teil. Das Land hat ein liberales Modell für Demokratie und Minderheitenschutz geschaffen. Europa verdankt ihm große Figuren des kulturellen Lebens wie den Astronomen Kopernikus, der 1543 bewiesen hat, daß die Erde nicht das Zentrum des Universums ist, Chopin und große Regisseure wie Andrzej Wajda."

Einige Anmerkungen kann sich der erzürnte Leser dieser Kurzporträts im Volksschulniveau nicht versagen: Im Zusammenhang mit Tschechien hätten wenigstens Kaiser Karl IV. und der böhmische Adelsaufstand von 1618 (der bekanntlich den Dreißigjährigen Krieg auslöste) erwähnt werden müssen.

Ob die Letten ihre Unabhängigkeit wirklich vor allem über Radfahrer und Popsängerinnen "engagiert erneuert" haben, sollten sie am besten selbst sagen, ganz sicher wäre es für den Otto-Normalbürger der alten EU aber wichtig zu wissen, von welcher Macht die neuen baltischen Partner 1991 unabhängig wurden. Immerhin spielt die Erfahrung der sowjetrussischen Fremdherrschaft für deren Selbstverständnis eine entscheidende Rolle. Außerdem sollten die europäischen Massen auch etwas darüber erfahren, daß Litauen nicht nur einen Schachgroßmeister und ebenfalls einen bekannten Radfahrer hervorbrachte (man fragt sich unweigerlich, ob bei der Überbetonung dieses Sportes die private Leidenschaft eines streßgeplagten Kommissionsbeamten Pate stand oder "nur" Rücksichten auf den vermeintlichen Zeitgeist genommen wurden).

Mit seiner Jagiellonendynastie schuf es bereits im Jahre 1386 zusammen mit der polnischen Thronerbin Hedwig den zeitweise größten Territorialstaat Europas, der mit seinen fünf Völkern und zwölf Sprachen so etwas wie eine EU des späten Mittelalters darstellte.

Natürlich ist es kein Fehler zu wissen, daß der Erfinder des Kugelschreibers ein Ungar war, aber zum Glück hatte und hat Ungarn weit mehr zu bieten.

Es wäre angebracht gewesen, in diesem "Porträt" die Namen Lajos Kossuths, Sandor Petöfis, Imre Nagys und Pal Maleters einschließlich der Daten 1849 und 1956 zu erwähnen. Gleiches gilt für die frühen "Sponsoren" eines Teils der musikalischen Hochkultur Europas in Gestalt ungarischer Magnaten wie der Esterhazys.

Bei den Ausführungen zu Polen kann endgültig nur noch der Griff zum Schmerzmittel helfen. Kein Wort von der Entstehung und Bedeutung des Jagiellonenreiches, von der Adelsrepublik, die sich als Fortsetzung der römischen res publica verstand, von den Teilungen im 18. Jahrhundert und Persönlichkeiten wie Adam Mickiewicz, Juliusz Slowacki, Cyprian Norwid oder Maria Sklodowaska-Curie. Die undifferenzierte indirekte Einordnung von Kopernikus als großem Polen paßt zum schwachen Niveau der Länderskizzen.

Mit einem Wort: Die EU-Kommission hat ein jämmerliches Machwerk in alle Amtssprachen übersetzen lassen, das höchstens als Zeugnis völliger Inkompetenz von Wert ist, weil es die wohl größte Herausforderung unterstreicht, die mit der Osterweiterung auf die Staatengemeinschaft zukommt: Für das alte und bisher ach so überhebliche EU-Europa muß jetzt eine zweite Maueröffnung beginnen, nämlich die in den Köpfen.

Fast alle "Väter der Europäischen Union", etwa Adenauer oder der Belgier Spaak, aber auch Robert Schuman und der immer zwielichtiger erscheinende Verursacher der gemeinsamen Agrarpolitik, Sicco Mansholt, konnten und wollten sich nur ein "burgundisches Europa" vorstellen, in dem Brüssel als geographische Mitte der (sicherheits-)politischen und kulturellen Koordinaten angesehen wurde.

Allein der französische Präsident de Gaulle hatte mit seiner Vision vom "Europa der Vaterländer vom Atlantik bis zum Ural" noch die "vereinigten Kulturstaaten von Europa" (Henry Kissinger) im Blick. Während des Kalten Krieges wurde die kulturelle Einheit des Kontinents im wesentlichen von den Völkern Ostmitteleuropas aufrechterhalten. Und was die Gegenwart betrifft, so hat die "alte EU" zweifellos noch einen langen Weg vor sich, um ihre kulturgeschichtlichen Defizite wettzumachen.

Atomium in Brüssel: Für viele EU-Bürokraten ist die Kulturgeschichte Ostmitteleuropas bis heute völlig fremd Foto: Archiv


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