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15.05.04 / Nidden oder das süße Salz der Poesie / Notizen und Reflexionen auf der Kurischen Nehrung

© Preußische Allgemeine Zeitung / 15. Mai 2004


Nidden oder das süße Salz der Poesie
Notizen und Reflexionen auf der Kurischen Nehrung
von Ulrich Schacht

Stille. Nichts als Stille: Darin ein Wind, der über mein Gesicht geht wie die Hand eines selbstvergessenen Wesens. Ein Ton von sanft anschlagendem Wasser dringt an mein Ohr, er steigt aus einem mächtigen Brunnen, dessen Tiefe nichts Dunkles verbirgt: lichtes Geräusch, Geräusch-Licht. Keine Drohung, kein Drama, keine Tragödie: Der Grund der Welt ist weiß, das blaue Gewölbe darüber wahr. Zwischen den Farben der Mensch, der ich bin; was ich sehe, noch hinter geschlossenen Augen: ein Weiß, auf dem mein Körper liegt, ein Blau, das ihn bedeckt. Die Stille beginnt zu reden, sie spricht vom Ort, über dem sie ausharrt wie ich: O Land, das ich geliebt wie anders nichts!/ Wortkarger, ungelenker Männer Heimat/ und stiller, herzverschloss'ner Frauen Land/ schmucklos und roh und kalt, dem Finger Gottes/ noch nahe: Sand, darüber bricht der Wind/ aufschreiend in sich selber nieder oft,/ und Schweigen steht da frierendnah umher./ Und Wolken überm Dünenrand. Die wehen.

Der Versuch, die Dinge zu bewahren, die wir verloren haben, wird an Orten gemacht, die jenen Verlust nicht einfach ins Bewußtsein heben, sondern ihn ins Unwiderlegbare beweisen. Erst solcher Beweis setzt einen Schmerz frei, dem wir nicht mehr entkommen können und deshalb antworten müssen: Der ostpreußische Dichter Johannes Bobrowski, geboren 1917 in Tilsit an der Memel, gestorben 1965 in Berlin an der Spree, schrieb das Gedicht "Die Kurische Nehrung", im Juli 1945, als Kriegsgefangener der Roten Armee, im Lager Novoschachtinsk nahe Rostow am Don. Bis zum Kaukasus sind es kaum 300 Kilometer. Aber über 2000 vom Lager nach Tilsit und auf die Nehrung zurück - Luftlinie. Die wirkliche Rückkehr Bobrowskis dauerte ein halbes Jahrzehnt; sie führte nie mehr nach Tilsit, nie mehr auf Nehrungs-Grund. Erst am 24. Dezember 1949 steht der Überlebende des Kurland-Kessels wieder auf deutschem Boden, in Berlin, im Kopf Gedichte wie "Die Kurische Nehrung", die sich später im Nachlaß finden. Er hat sie nicht veröffentlicht, aber auch nicht vernichtet. Im Lager zuerst auf einer Wandzeitung zu lesen, schrieb Bobrowski die Gedichte danach auf glatt gehobelte kleine Holzbretter. Schließlich lernte er sie auswendig; nach seiner Entlassung rekonstruierte er sie aus dem Gedächtnis. In seinem "Bericht über die ersten Jahre der Gefangenschaft" sieht er das so Gerettete dennoch kritisch und spricht in der dritten Person über sich, den Dichter von damals: "Im Grunde waren es noch die traumhaften Gebilde seiner Schuljahre, deren reale Gestalt ihm als eine entsetzlich geschmacklose Hochstapelei erschienen war ..."

Nehrungs-Fischerei, das Überlebenshandwerk ganzer Generationen mit Niddener Namen wie Bulbis, Detzkeit, Sakuth oder Lasdehn, das nie Fülle nach sich zog, höchstens Not reduzierte, ist heute erst recht marginales Tun. Als vermitteltes Können vom Vater auf den Sohn so gut wie ausgestorben. Die Kurenkähne, Motive in den Bildern der Dichter und Maler von geradzu ikonographischer Bedeutung, Kurenwimpel aus buntbemaltem Holz am Mast, an denen der Herkunftsort der Boote genau zu erkennen war: Vorläufer von Autokennzeichen, Museumsstücke oder nachgebaute Touristen-Illusion. Steht man vor ihnen oder geht an Bord, verwandelt sich die Härte von einst in Süße von heute. Warum versüßt Poesie, selbst wenn sie das Salz in der Wunde bewahrt? Was das Gedicht Bobrowskis in schönem Klang zur Sprache bringt, ohne beschönigen zu wollen, klingt in der Prosa des historischen Dokuments, einem Bericht des Fischeramtes Rossitten vom 4. März 1777, nur noch entsetzlich eindeutig: "Der größte Theil der Amts-Einsaaßen bestehet aus elenden und ganzt armen Fischern, die, sobald das Curische Haff vom Eise befreyt ist, ihre Hütten verlaßen und mit der gantzen Familie und Haabseeligkeit sich auf ihre Böthe begeben ... und ihren geringen Fischfang in denen an diesem Haafe belegenen Örtern versilbern."

Gott und die Zeit: Das Weiß, auf dem ich liege; das Blau, das sich über mir wölbt. Die Antwort auf philosophische Fragen ist der Moment, in dem ich mich befinde. 7. September 2001: Flugplatz Palanga, Litauische Republik, Klaipeda, Kurische Nehrung, Nidden - die Reihung kommt auf mich zu wie ein Dokumentarfilm. Splitter eines Kaleidoskops am Auge Gottes, der immer wieder dreht und mischt und dreht und mischt: Ordensritter, polnische Heere, litauische Großfürsten. Russische, schwedische Uniformen-Intermezzi. Französische Kriegsgefangene im Dünensand oder Verwaltung nach Maßgabe des Völkerbundes. Freischärler litauischer Couleur. Wehrmacht, Rote Armee. Deutsche Flüchtlingsströme auf gefrorenem Haff, mit Mann und Roß und Wagen hat sie der Herr geschlagen. Die Fischer, die Bernsteinsucher. Ännchen von Tharau und der Dichter Simon Dach, ihr Schöpfer. Touristen in Weiß, das Motiv-Dorado der Pechstein, Corinth, Kirchner, Schmidt-Rottluff. Seebäderglanz und die Furien der großen Kriege. Dazwischen, im historisch-chronologisch präzisen Sinne des Wortes: Thomas Mann, der Nobelpreisträger, der aus Lübeck stammt, vom baltischen, dem weißen Meer, wie es im Litauischen heißt. Drei Sommer lang - 1930, '31 und '32 - kommentiert er von der Niddener Warte aus, die seit 1923 auf völkerrechtlich schrägem, litauischem Boden steht, die blutigen Hakenkreuz-Vorspiele im Reich, das gleich hinter Nidden beginnt: ahnungsvolle Einübung ins Exil.

Die Trilogie "Joseph und seine Brüder" wird fortgeschrieben, am Arbeitstisch im neu erbauten Sommerhaus zu Nidden, weitere schöpferische Peri-oden erhofft. Doch der Sommer 1933 sieht Thomas Mann und die Seinen schon im Exil. Das Refugium auf dem "Schwiegermutterberg" Niddens mit seinem "italienischen Blick" fällt Hermann Göring in die Hände, dem führenden Dieb des Dritten Reiches. Der kommt zwar nie selbst, aber Albert Speer läßt sich blicken. Hat er die zurückgelassene Bibliothek bemerkt? Bücher fast ausschließlich zur Geschichte des historischen und biblischen Judentums. Theologische, archäologische Werke. In einem Niddener Souvenirladen mit Bernstein-Kitsch und Andenken-Scheußlichkeiten habe ich einen verstaubten Stapel alter Bücher entdeckt, darunter theologische zum Alten Testament sowie die fast unbenutzte, in einem Schuber steckende deutsche Ausgabe des einst Sensation machenden Berichts "Ur und die Sintflut. Sieben Jahre Ausgrabungen in Chaldäa, der Heimat Abrahams" von C. Leonhard Woolley, 7. Auflage 1931. Die Wahrscheinlichkeit, ein Fragment der Niddener Bibliothek des Dichters entdeckt zu haben, ist nicht gering. Eine handschriftliche Notiz suche ich später darin allerdings vergebens. Lediglich ein bleistiftgeschriebenes großes "K." mit Punkt läßt sich auf dem Vorblatt entdecken. Die Vornamen zweier Familienmitglieder des Clans beginnen mit diesem Buchstaben.

1945 liegt das Niddener Anwesen der Manns in Trümmern, es versinkt, für ein halbes Jahrhundert, das Gewesene und Gewußte, das Gewonnene und Verspielte - der Raum Ost-Preußen mit seinen deutsch-polnisch-litauisch-jüdischen Überschneidungen und Potenzierungen - scheinbar für ewig im vollkommen anderen: nun ein Gelände russisch-sowjetischer Lesart. Ab jetzt wird kyrillisch buchstabiert, leninistisch definiert und stalinistisch isoliert, bis in den ebenso gleichmäßigen wie gleichzeitigen Zerfall aller Vergangenheit und Gegenwart. Die lange andere Stille hinter dem Ordnungs-Chaos im Kaleidoskop Gottes beginnt. Doch eine Dekade vor dem Ende des Jahrtausends dreht er ein weiteres Mal daran.

In der Stunde, die ich auf dem gut 60 m hohen Scheitel der Hohen Düne weit hinter Nidden verbringe - ruhend mit dem Körper, wachend mit den Sinnen -, ist von all dem nichts geblieben. Reiner Ort, ist die Welt jetzt menschenleer. Wenn ich mich aufrichte, den Blick nach links lenke: über das Haff, nach rechts: zum Meer hin, ist das Politische unsichtbar. Zwischen den Wassern, über die mein Blick geht, wölbt sich der Leib der Düne bis unter den Himmel: die dritte Richtung, vielleicht die verführerischste in dieser Stunde. Zur Gänze verschwunden ist, was ich weiß. Vielleicht war es das weiße Dreieck eines Segelbootes auf dem Haff, das mir - Symbol falschen Idylls - riet, den Blickwinkel zu ändern und endlich auch die horizontale Ebene des Ortes zu erfassen: Auf Augenhöhe, entfernt zwar, doch gut zu erkennen, ragt ein Grenzpfahl mit quadratischem Schild gegen das Licht. Nun ist wieder - sichtbar - das Politische. Es stellt sich, mit einem seiner machtvollsten Symbole, dem Grenzpfahl, quer zur Welt der vier Elemente: Vor mir liegt ein Stück Rußland außerhalb Rußlands. Das Kaliningrader Gebiet: Kaliningradskaja Oblast. Königsberg soll das heißen - 1255 vom Deutschen Orden gegründet, Hochmeisterresidenz und späterer Krönungsort preußischer Könige, die Stadt Kants und des Aufrufs zum Befreiungskrieg gegen Napoleon, Geburtsort Erich von Drygalskis, des größten Ant-arktis-Forschers aller Zeiten, und Kindheitsort der Philosophin Hannah Arendt. Die Stadt gibt es nicht mehr. Zumindest so wenig wie Alt-Nidden und weitere Lagen des Ortes, die seit Mitte des 17. Jahrhunderts unter der vom Westwind getriebenen Sandflut der großen Düne ertranken. Fast zwei Dutzend Nehrungsdörfer traf es im Laufe der Jahrhunderte. Die Geschichte des Verschwundenen, Verlorenen reicht tiefer hier, als ein erster Blick über die Oberfläche beweist. Die Quellen bewahren den Schrecken, seine Menschenopfer wie klarer Bernstein Insekten-Einschlüsse.

Hör' ich hinunter, in die Tiefe unter dem Sand, was höre ich wirklich? Pferdehufe auf Waldboden? Ein gedämpftes Geräusch, jahrhundertealt... Es kommt, in seiner Dichte und Kraft, von weit her. Lange zuvor schon vernehmbar im Heiligen Land, auf Kreuzzügen überall, rückt es, über Zypern, Venedig, Ungarn, näher. Dann ist es da, man schreibt das Jahr 1226: Ein Fürst Polens, Konrad von Masowien, Herrscher zwischen Weichsel und Narew, möchte das heidnische Waldvolk der Pruzzen, das ihn mit Raubzügen traktiert, christianisieren. Christianisieren heißt auch: besiegen, beherrschen. Die Pruzzen leben frei, in Stammesgemeinschaften, sie pflegen die Polygamie, den Kauf von Frauen, die Raub-ehe. Christus, ein Gott am Kreuz, ist ihnen suspekt.

Doch der polnische Fürst schaffte es nicht: Die Götzenanbeter aus den Wäldern schlugen zurück, bedrohten ihrerseits Polen aufs höchste. Der Notruf des Herzogs geht an die Ritter des Deutschen Ordens, die zu dieser Zeit, hauptsächlich im Heiligen Land, mit Feuer und Schwert christliche Reiche zu etablieren versuchen. Nun also den blutigen Gottesdienst am entgegengesetzten Ende der Welt. Hermann von Salza, Hochmeister des Ordens, Vertrauter Kaiser Friedrichs II. und mit Talenten gesegnet wie keiner nach ihm auf seinem Platz, läßt sich nicht zweimal bitten: der Traum vom Ordensstaat ist zu groß und der christliche Idealismus der bescheiden lebenden Ritter nicht kleiner, als daß man sehr lange nachdenkt. Zumal das Angebot einen schlagkräftigen Ruf enthält: Das zurückeroberte Kulmerland wird dem Orden gehören. Im Winter 1230/31 steht ein erster Heeresverband des Ordens an der Weichsel. Die Herausgeforderten, zahlenmäßig stärker, weichen trotzdem zurück: das kleine Ordensheer ist ihnen durch Ausrüstung und Organisation weit überlegen. Die Pruzzen sind Realisten. Aber sie haben schon verloren. Auch der Orden wird von Realisten geführt, von klugen und nicht zuletzt durch Rom maßvoll gehaltenen Eroberern, die Städte gründen, mit freien Bürgern rechnen, Wohlstand schaffen. Glauben sie doch zuerst an Gott als den Herrn der Welt, nicht an ein Rassen-Gesetz der Geschichte - wie Jahrhunderte später ein gottloser Blutsäufer und nihilistischer Charakter aus dem Südosten des Reichs, der auch dadurch alles verspielen wird, wofür sie in Jahrhunderten gekämpft, gelitten, gearbeitet und gebetet haben.

Die Sandwalze, auf der ich liege und mich doch in des Himmels Hand fühle, überrollt tausend Meter südlich von mir, kurz hinter der Grenze am "Grabschter Haken", einen Birken- und Kiefernwald - dort, wo Nidden bis 1675 das erste Mal versuchte, ein Dorf zu sein und zu bleiben, und verschwand - in einem Prozeß langen Sterbens durch Holzeinschlag, der den Wald auf der eher hügeligen Ur-Nehrung schütter werden ließ und so für den Flugsand durchlässig machte. 1437, in der Inventarliste der Ordens-Komtu-rei Memel, taucht ein "Niddener Krug" aus dem geschichtlichen Nebel auf, 7 Mark hatten seine Besitzer zu zinsen. Ein Jahrhundert später registriert die Memeler Amtsrechnung in Nidden 18 Voll- und 3 Halb-Fischer, das waren Tagelöhner ohne Grundbesitz, ein Dutzend Jahre weiter sind es sogar 20 grundzinspflichtige Bootsbesitzer. Doch dann knickt die Aufwärtskurve ab, die Arbeit der Natur an einem Unglück mit grandioser Pointe nimmt ihren Lauf. Am 19. November 1614 vermeldet das "Schuldt-Registers" des Amts Memel schließlich: "In Nidden seindt nur ihr drey beim Leben, die andern Erbe seindt alleß verwehed und versandet ..."

In meinem Empfinden bleibt die Düne schön. Sie ist in Bewegung, aber ich spüre sie nicht. Die einzige, die ich gewahr werde, urplötzlich, aus verändertem Blickwinkel und wie durch den siebten Sinn, geschieht auf der Linie der Grenzschilder: zwei Köpfe mit Käppis heben sich ab, der Lauf einer Waffe. Dann gehen sie wieder in Deckung - als tanzten Kasperpuppen über dem Horizont. Den Plan, mich der Linie zu nähern, um parallel zu ihr die Ostsee zu erreichen, gebe ich im selben Moment auf. Schon andere sind in tiefer Unruhe durch dieses Gelände geeilt. Der berühmteste von ihnen vielleicht: Thomas Mann. Im Sommer 1932 war er allein zu einem Spaziergang aufgebrochen. Auf dem Wege durch das Gebiet der Hohen Düne passierte er auch das "Tal des Schweigens", einen totenstillen Grund zwischen riesigen Sandwänden, in dem während des Ersten Weltkrieges französische Kriegsgefangene interniert waren. Stille und ein Gefühl absoluter Verlorenheit versetzten Thomas Mann aber dermaßen in Panik, daß er umgehend nach Hause eilte. Als ich das "Tal des Schweigens" durchschreite, ebenso einsam und bevor ich die Hohe Düne ersteige, stoße ich auf Reste von Kreuzen und ein hölzernes Schild, auf dem in litauisch vom Friedhof der Kriegsgefangenen gesprochen wird, wie man mir später übersetzt. Da es, abgerissen von irgendeinem Pfahl, kurz davor ist, wie die Kreuze auch, im Sand zu versinken, berge ich es und trage es wie einen kostbaren Schatz in meinem Ruck-sack über Düne und Nehrungsstraße zurück ins Quartier. Thomas Mann hat die schreckliche Unruhe, dieser Anflug von Todesangst im "Tal des Schweigens", nicht wirklich vertrieben aus der Schönheit der Nehrung.

Immer in Bewegung: Foto: U. Schacht  Die Dünen der Kurischen Nehrung sind Idyll und Schrecken zugleich


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