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05.06.04 / Stabilität beruht gerade auf der Verfassung / Was lehrt uns die Erinnerung an die Vergangenheit? (Teil III)

© Preußische Allgemeine Zeitung / 05. Juni 2004


Stabilität beruht gerade auf der Verfassung
Was lehrt uns die Erinnerung an die Vergangenheit? (Teil III)
von Klaus von Dohnanyi

Gewiß kann man nicht bestreiten, daß auch damals Strukturen der deutschen Gesellschaft und eine ungeübte parla- mentarische Mentalität mitverantwortlich waren. Aber ich sehe nicht, daß diese in erster Linie für den fatalen Ausgang verantwortlich zu machen wären. Noch im Angesicht der Katastrophe sahen das auch viele Zeitzeugen eher wie ich heute und wesentlich realistischer als manche Historiker der späteren Generation. Ich möchte hierfür einen amerikanischen Beobachter etwas ausführlicher zitieren: Allen Dulles, den Bruder des Außenministers im Kabinett Dwight Eisenhowers, John Foster Dulles. Allen Dulles, der Bruder, war während des Krieges Chef des US-Nachrichtendienstes in der Schweiz gewesen und schrieb in seinem Buch "The German Underground" (1947) folgendes:

"Als ich nach dem Ende des Krieges begann, die Informationen über den deutschen Widerstand zusammenzutragen, die ich seit 1943 gesammelt hatte, da hatte ich nur ein begrenztes Ziel - ich wollte die Geschichte einer Gruppe von Frauen und Männern erzählen, die den Mut hatten, gegen Hitler zu konspirieren, und wie sie es gemacht hatten. Aber als ich mit meiner Arbeit vorankam, da wurde klar, daß die Geschichte dieses Widerstandes eine der fundamentalen Fragen unserer Gesellschaft beleuchtete. Sie legte nämlich offen, wie die verschiedenen Ebenen der deutschen Gesellschaft reagierten, als der Diktator sich anschickte, die Demokratie zu zerstören. In Deutschland mindestens gab es keine tiefgestaffelte Verteidigung gegen diese Attacke. Als die Linie einmal an einer vitalen Stelle durchbrochen war, da war die Schlacht schon verloren. Diese Tatsache sollte uns alle bewegen zu überdenken, wie angemessen unsere eigenen Institutionen für den Erhalt der Demokratie sind und in welchem Umfange ihr Überleben davon abhängen muß, mit welchem Engagement Frauen und Männer bereit und willens sind, diese Institutionen rechtzeitig zu verteidigen. Die fatale Schwäche des politischen Systems der Weimarer Republik lag in der einfachen Weise, in der die absolute Macht vom Volke genommen und in die Hand eines einzelnen Mannes gelegt werden konnte. Wo verfassungsrechtliche Sicherheitsschranken so schwach sind, daß schon ein einziger Ansturm sie überwinden kann, da kann dem Volk schon dadurch die Möglichkeit genommen werden, einen wirksamen Kampf zur Verteidigung der Demokratie aufzunehmen." (S. 196, meine Übersetzung, meine Unterstreichungen.)

Ich bin heute ziemlich sicher: ein besonderes Verfassungsgericht des Reichs damals; die dazu gehörenden Grundrechte; eine Fünf-Prozent-Klausel; ein konstruktives Mißtrauensvotum; eine unabhängige Bundesbank; oder auch nur einige dieser institutionellen Vorkehrungen, wie wir sie heute haben - kurz eine bessere Verfassung -, hätten Weimar so stabil machen können, daß auch extremistische Demokratiefeinde, ja, daß selbst Hitlers Verbrecher kaum eine Chance gehabt hätten.

Eine wichtige Lehre also, vielleicht die wichtigste überhaupt, die wir aus der deutschen Katastrophe zu ziehen hatten, lautet deswegen: Eine Verfassung muß so gestaltet sein, daß ihre Institutionen auch in Krisenzeiten ein Höchstmaß an flexibler Stabilität aufweisen. Erwartet man große Krisen - und das war nach dem Sturz der Monarchie, den Friedensbedingungen und den wirtschaftlich zu erwartenden Folgen klar -, dann muß die Stabilität der Verfassung absoluten Vorrang haben. 1945 hatten wir diese institutionellen Voraussetzungen einer stabilen Verfassung verstanden, denn im parlamentarischen Rat von 1947 saßen die gebrannten Kinder des Weimarer Versagens. Auch die westlichen Siegermächte machten erfolgreiche Vorgaben für bessere, stabilere Strukturen. Heute zeigt der sogenannte "Reformstau" allerdings schon wieder strukturelle Verfassungsursachen eines fehlentwickelten deutschen, sogenannten "kooperativen Föderalismus", den man auch als eine Organisation politischer Verantwortungslosigkeit bezeichnen kann: Wer trägt wofür eigentlich letztlich die politische Verantwortung - Bundestag - Bundesrat - Vermittlungsausschuß? Bundesregierung - Landesregierung? Welche Aufmerksamkeit widmen wir aber heute als "Erinnerungskultur" dieser Tatsache? Man darf doch nicht, zum Beispiel im Bildungswesen, ohne eine langfristig orientierte Verfassungsstrategie im Bereich der Ganztagsschulen, zum Beispiel, tagespolitisch an der Verfassung vorbei herumbasteln! Deutschland bedarf heute vielmehr eines großen und verantwortungsvollen demokratischen Verfassungsdiskurses über die Funktionsfähigkeit unserer föderativen Verfassung und über die Effizienz ihrer Entscheidungsprozesse, also über Gemeinschaftsaufgaben, Mischfinanzierungen und auch die europäische Dimension in einer veränderten Welt.

Die deutsche Verfassungserfahrung von Weimar kann im übrigen heute gerade für Länder in Transformation eine lebenswichtige Erkenntnis sein. Denn: Verhältnisse, Umstände und Gefahren ändern sich. Und es ist eben immer zu spät, wenn die Verteidigungslinie erst einmal an einer "vitalen Stelle", wie Allen Dulles schrieb, durchbrochen ist. Insofern ist auch unsere Hilfe beim sogenannten nation-building, also beim Aufbau stabiler

demokratischer Strukturen in Entwicklungs- und Transformationsländern, eine Verpflichtung, die uns aus unserer Erfahrung für die Welt erwachsen ist. Und dabei darf man dann auch nicht leichtfertig allzu weitreichende Hoffnungen hegen, denn Demokratie setzt den Rechtsstaat und dieser eine gewisse zivile Ordnungsbereitschaft voraus. Auch das ist ein wichtiger Bestandteil der Erinnerungskultur.

Im Angesicht tiefgreifender Umwälzungen, im Gefolge von Europäisierung und Globalisierung, müßten wir und unsere europäischen Nachbarn auch dringend für stabile und funktionstüchtige institutionelle Strukturen des europäischen Sozialstaates sorgen. Die im Europäischen Konvent anstehenden Fragen der Verfassung und ihrer Institutionen sind eben nicht in erster Linie parteitaktische Fragen oder Fragen vorrangig nationaler Interessen. Es sind lebenswichtige Stabilitätsfragen der nun verbundenen europäischen Demokratien in den vor uns liegenden stürmischen Jahre. Die europäische Verfassung darf nicht nur nach dem Grundrechtekatalog beurteilt werden: Die Sicherung der Grundrechte wird vielmehr von der demokratischen Effektivität der Verfassung abhängen. Auch das lehrt uns die Erinnerung an 1933. Weimar litt noch an einem weiteren Übel. Nicht nur die wirtschaftlichen Desaster der großen Inflation und der Weltwirtschaftskrise hatten die Gesellschaft erschüttert. Nicht nur war die Weimarer Verfassung eine Fehlkonstruktion: Die Deutschen fühlten sich seit 1918/19 durch die Friedensverträge auch als Volk gedemütigt, ungerecht behandelt und nahmen dies zum Teil dem neuen Staat übel - der allerdings diese Lage nicht verschuldet hatte.

In dieser Beziehung wird das Lernen aus der deutschen Geschichte aus meiner Sicht gelegentlich durch eine allzu einseitige historische Betrachtungsweise behindert. Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Bundeskanzler Schröder hatte Martin Walser zu einem Dialog über die deutsche

Geschichte eingeladen. In diesem Dialog verwies Walser für die Entwicklung des Nationalsozialismus unter anderem auf die Folgen des Versailler Vertrages (also auf die Pariser Vorortverträge) von 1918/1919. Hans Mommsen griff in der Zeit diese Bemerkung auf und warf Walser vor, mit diesem "altväterlichen Nationalgefühl" die "Verantwortung für die Errichtung der NS-Diktatur den westlichen Alliierten" zuschreiben zu wollen. Das hatte Walser allerdings gar nicht gesagt. Walser hatte ja über ein "Geschichtsgefühl" gesprochen.

Hans Mommsen legte zwar zutreffend dar, daß zum Ende der Weimarer Republik die meisten der außerordentlichen Reparationsbelastun- gen aus den Friedensverträgen 1918/1919 so geregelt werden konnten, daß man sie vielleicht für die Wirtschaftskrise der Jahre 1930- 1933 nicht mehr unmittelbar verantwortlich machen konnte. Doch selbst diese Argumentation (die dann allerdings im Gegensatz zu John Maynard Keynes steht, der die Hyperinflation als Ergebnis dieser Verträge erwartet hatte) darf das Faktum nicht übersehen, daß eben nicht nur die "rechtsbürgerlichen Parteien", wie Mommsen meint, das Schlagwort vom "Versailler Diktat" in der politischen Debatte Weimars verwendeten, sondern daß auch die starke, extreme Linke (die Kommunisten) den Vertrag niemals anerkannte. So solide sozialdemokratische Politiker wie Ebert und Scheidemann hatten ja zunächst auch massiv gegen die Annahme dieses Vertrages als eines "Diktats" argumentiert. Und so empfand es eben die große Mehrheit des Volkes - insbesondere wegen des Kriegsschuldartikels 231. Daß diese einseitige Zuschiebung der Kriegsschuld auf Deutschland historisch falsch war, ist heute, nun insbesondere seit der großen Studie des Oxford-Historikers Lew Strachan (2001), unbestreitbar.

Erlauben Sie an dieser Stelle wiederum zwei kurze, zeitnahe historische Reflexionen. Die dominante Geschichtsschreibung der Siegermächte nach 1918, die schließlich nach 1945 weitgehend auch den Tenor der deutschen Forschung zur Geschichte des Ersten Weltkrieges bestimmte, hatte Deutschland und Österreich die überwiegende Schuld am Ausbruch des Krieges 1914 gegeben, weil Deutschland der Donaumonarchie bei deren Ultimatum an Serbien den Rücken stärkte.

Was war geschehen? Ein Serbe, unbestritten ein Terrorist, unterstützt vom Königreich Serbien, dessen großserbische Ambitionen wiederum ein ständiger Faktor der Destabilisierung auf dem Balkan waren, hatte den österreichischen Thronerben ermordet.

Wenn ich diesen Zusammenhang auf dem Hintergrund der Irak-Krise heute betrachte, dann unterscheidet sich eigentlich die damalige deutsch-österreichische Position von derjenigen der USA heute moralisch wirklich in keiner Weise, wie man uns so lange weismachen wollte. Der Unterschied liegt dann nur darin, daß die Mittelmächte nicht die europäische Supermacht waren, die sich eine derartige Wahrnehmung ihrer Interessen herausnehmen konnte - so wie heute die USA.

(Wird fortgesetzt)

 

Dr. Klaus von Dohnanyi, geb. 1928 in Hamburg, ist seit 1957 Mitglied der SPD. Von 1969 bis 1981 gehörte er dem Deutschen Bundestag an. Von 1972 bis 1974 war er Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, von 1976 bis 1979 Staatsminister im Auswärtigen Amt, von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg.

Der in dieser Serie dokumentierte Text basiert auf einem Vortrag der Akademie für Politische Bildung Tutzing in der vom Bayerischen Landtag veröffentlichten Fassung.


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