29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
12.06.04 / Die Einheit Deutschlands verbieten? / Was lehrt uns die Erinnerung an die Vergangenheit? (Teil IV)

© Preußische Allgemeine Zeitung / 12. Juni 2004


Die Einheit Deutschlands verbieten?
Was lehrt uns die Erinnerung an die Vergangenheit? (Teil IV)
von Klaus von Dohnanyi

Sollte man dann aber nach 1918, und heute erst recht, nicht verstehen, daß Deutschland sich durch Versailles moralisch von einer einseitigen Siegerjustiz verurteilt fühlte? Oder: Die Demokraten im Congress - Präsident Wilsons Partei - forderten 1916, daß Wilson den US-Amerikanern verbiete, auf USA-Schiffen zu reisen, die mit Nachschub und Versorgung für Großbritannien im Krieg eindeutig die Neutralität der USA verletzten. Der amerikanische Außenminister Bryan trat wegen dieser Neutralitätsverletzung sogar zurück! Der bedeutende US-Diplomat Lewis Einstein hatte allerdings (angesichts einer angeblichen Gefahr eines deutschen Übergewichts in Europa) schon 1913 in einem vielbeachteten Memorandum gefordert, die Monroe-Doktrin auf England zu erstrecken. Die USA aber verletzten nun im Krieg kontinuierlich ihre "Neutralität", unterstützten Großbritannien einseitig - eben aus diesem Interesse. Deutschland hätte das wissen müssen. Die Moral aber war damals nicht auf seiten der USA. Was würde wohl George W. Bush heute sagen? Vielleicht: Wer meinen Feind unterstützt, der ist mein Feind? Am Ende standen jedenfalls die USA im Krieg bei Großbritannien.

Heutige Historiker sollten also in ihren Einschätzungen des Weimarer Klimas die psychologische Lage damals nicht so schnell übergehen. Um diese richtig einzuschätzen, braucht man zuverlässige Zeitzeugen. Nur ein Beispiel: Ferdinand Friedensburg. Er schreibt in "Die Weimarer Republik" (1934 geschrieben, veröffentlicht 1946), daß "die harten Vertragsbedingungen das deutsche Volk erregt und viel zu dem Reizzustand beigetragen [hatten], der die ganze Zeit nach 1918 vergiftete und das Aufkommen einer abenteuerlichen Gegenbewegung verschuldete". Dem könnte man Hunderte weiterer unverdächtiger Zitate hinzufügen. So haben es damals eben viele erlebt.

Da klingen dann auch die warnenden, prophetischen Worte von John Maynard Keynes aus dem Jahre 1919 bis heute nach. Er sah schon 1919 als wirtschaftliche Folge der Friedensverträge voraus, daß eines Tages "die Ratgeber der Verzweiflung und des Wahnsinns die Leidenden (dann) aus der Lethargie reißen werden, die der Krise vorangeht. Dann werden sich die Menschen schütteln, und die Bande der Sitte lösen sich. Die Macht der Ideen wird regieren, und der Mensch hört auf jeden Rat der Hoffnung, der Illusion oder auch der Rache, der ihm zugetragen wird." ("The Economic Consequences of the Peace", 1919, S. 235, meine Übersetzung.) Eine Warnung für heutige Tage und für viele Länder der Welt! Sind es nicht auch solche Überlegungen, die die Mehrheit im Sicherheitsrat gegen ein Kriegsmandat Irak vorbrachte? Erinnerungskultur sollte auch diese deutschen Erfahrungen nach 1918 beherzigen.

Walser hatte also politisch-psychologisch recht mit seinem Verweis auf "Versailles", aber dieser Hinweis beschuldigt deswegen nicht die Alliierten und nimmt nichts vom deutschen Versagen am Ende der Weimarer Republik oder gar von den Verbrechen der Nazi-Diktatur. Die verheerenden Folgen von Versailles gehören vielmehr zur Wahrheit über die Ursachen der Naziherrschaft. Doch als derartige Warnung hatten sie einige wohl 1989/1990 völlig vergessen. Denn damals, also 45 Jahre und gut zwei Generationen nach dem Ende des Nazireiches, brachen die kommunistischen Gefängnismauern um Osteuropa und das geteilte Deutschland. Unerwartet bot sich die Chance der deutschen Wiedervereinigung. Aber viele derer, die in einer einseitigen Erinnerungskultur verhaftet waren, meinten, die historische Erfahrung verbiete den Deutschen jede zukünftige nationale Einheit. Günter Grass zum Beispiel verstieg sich im Mai 1990 in Tutzing zu der Forderung, wenn schon die Deutschen seiner persönlichen historischen Einsicht ewiger Teilung nicht zustimmen wollten, dann sollten doch wenigstens die Siegermächte von 1945 den Deutschen die Wiedervereinigung verbieten! Verbieten! Fast ein halbes Jahrhundert nach der Nazizeit erneut eine zwangsweise aufrechterhaltene Teilung Deutschlands, mitten im freien Europa? Hätte man die deutsche Geschichte ehrlicher studiert und sich nicht so einseitig auf besondere deutsche Mentalitäten und Strukturen festgelegt, dann hätte doch die Konsequenz lauten müssen: Nie wieder Beschlüsse von Siegermächten wie nach 1918.

Doch ich erinnere sehr persönlich: Mit einer pauschalen Verurteilung des Bismarck-Reiches wies 1989 im Parteivorstand der SPD der Regierende Bürgermeister Berlins und Historiker Walter Momper meine Forderung nach entschlossener Vereini-gungspolitik zurück: Die Wiederkehr des Bismarck-Reiches werde Europa erneut ins Wanken bringen, oder so ähnlich, lauteten seine Argumente. Was aber die Festschreibung von zwei künstlich geteilten deutschen Staaten politisch in Deutschland - Ost und West - und in Europa ausgelöst hätte, und was wir sonst aus Versailles zu lernen hätten, das wurde von dieser Theorie nicht einmal berührt. Wir hätten nämlich heute vermutlich auf beiden Seiten der Grenze 30prozentige "Vereinigungsparteien"!!

Und ein weiteres ist zu lernen aus der Vorgeschichte der Nazizeit: Wir alle kennen die wilhelminische Großmannssucht und ihren Anteil an der Lage vor 1914. Aber diese war auch - ich betone auch! -, wie Paul Kennedy in "The Rise of Anglo-German Antagonism" sehr gut herausgearbeitet hat, eine Reaktion auf die begrenzenden Chancen, die die großen europäischen Mächte dem aufstrebenden Deutschland vor 1914 zugestehen wollten. Weltpolitisch können wir auch hier für unsere Tage etwas lernen: Vermeiden wir nicht nur die Demütigung anderer Völker. Beachten wir auch die Interessen anderer Nationen. Ich sage das besonders mit Blick auf Rußland, wo allerdings nun der 11. September eine erstaunlich partnerschaftliche Haltung des Westens bewirkt hat. Aber auch Palästinenser und islamische Nationen befinden sich in der Gefahr, tiefe Kränkungen immer wieder in Gewalt zu wandeln. Der Irak-Krieg, so befürchten viele, könnte das wieder verschärfen. Und: Erlauben wir - ich sage dies nun eher mit Blick zum Beispiel auf China -, daß die sich noch entwickelnden Nationen auf ihrem Weg zu einem ja unausweichlichen schrittweisen weltpolitischen Machtausgleich ihren notwendigen Spielraum in einem flexiblen Gefüge der Weltpolitik finden! Hier werden insbesondere die USA auf sich zu achten und aus dem Europa vor 1914 zu lernen haben. Wer nämlich den Deckel zu lange auf dem Kessel hält, erzeugt explosive Dampfkraft!

Ich kann nun an dieser Stelle eine Zwischenbilanz ziehen und komme insofern zu einem positiven Ergebnis unserer "Vergangenheitspolitik", als wir - und die westliche Welt - nach 1945 nicht ohne Erfolg bemüht waren und sind, aus den meisten makropolitischen Ursachen der deutschen und europäischen Kata- strophen des 20. Jahrhunderts zu lernen, auch wenn die Nazivergangenheit allzuoft in falschem Zusammenhang mahnend zitiert wurde. Aber festere Verfassungsstrukturen, gesicherte Grundrechte, Instrumente nationaler und internationaler wirtschaftlicher Stabilisierung, weltweite Integrationsbestrebungen für den Ausgleich gegensätzlicher nationaler Interessen in den Vereinten Nationen usw. haben wir gelernt. Sogar die für Deutschland so schmerzliche endgültige Klärung der Grenzen, der Besiedlungen und Sprachen gehört im Osten letztlich als positiver Faktor hierher.

Ich glaube übrigens, daß die Vereinten Nationen nicht geschwächt, sondern letzten Endes gestärkt aus der Irak-Krise herauskommen werden. Noch einmal wird sich eine Supermacht den Weg so einfach nicht machen können. Doch angesichts sich schnell wandelnder Weltverhältnisse müssen wir wachsam und beweglich bleiben. Die Zeiten werden gefährlicher. Wir haben zwar gelernt - doch man lernt nie aus!

Ich komme nun zum zweiten Teil meiner Überlegungen. Auch die besten demokratischen Institutionen bleiben ohne entschlossene Demokraten gefährdet. Allen Dulles schrieb 1947 sehr wohlüberlegt: Es müsse nicht nur institutionell tiefgestaffelte Verteidigungslinien der demokratischen Institutionen geben, man brauche dann auch Frauen und Männer, die an diesen Stellen die Demokratie offen und mutig verteidigen. Und an solchen Männern und Frauen hat es damals, im Weimar der letzten Jahre, gefehlt.

Die Sicherung der Demokratie erfordert eine rechtzeitige Unterstützung und Verteidigung der demokratischen Institutionen und ihrer Regelsysteme im Rahmen des alltäglichen politischen Prozesses. Zu diesem Prozeß gehört entscheidend eine offene, streitige, demokratische Debatte. Wenn diese Debatte allzusehr eingeengt wird, dann kann sich eine unbefangene Meinungsfreiheit und damit ein sicheres Gefühl für den zentralen Wert von Freiheit kaum entwickeln. Dann erhält die Demokratie zu wenig Atem.

Wir berufen uns oft auf allgemeine gemeinsame Werte wie "Freiheit", "Gleichheit", "Brüderlichkeit" oder auch: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Angesichts der sehr unterschiedlichen Interpretation dieser Grundsätze erweist unsere sogenannte westliche "Wertegemeinschaft" jedoch ihre wahre Bedeutung erst im Schutz der Unterschiede von Wertauffassungen, nicht in deren Übereinstimmung. Die sogenannte "Wertegemeinschaft" ist im Kern eine Gemeinschaft zur Aufrechterhaltung des demokratischen Prozesses unter dem Dach der Menschenrechte; die Demokratie ein Zweckbündnis zur Einhaltung von politischen Umgangsformen; ein Regelsystem für den politischen Entscheidungsprozeß, das sogar angesichts extremer Gegensätze in den Wertauffassungen einzuhalten ist.

Demokratie ist also im Kern eine rechtlich geregelte und geschützte Praxis der Toleranz. Ausnahmen gelten nur dort, wo der Andersdenkende die Regeln der Demokratie selber nicht respektiert, die garantierten Rechte auf Freiheit der Meinung, der Würde des Menschen usw. in Frage stellt oder gar beseitigen will. Sonst hat immer die Freiheit Vortritt, auch - oder sogar gerade! - wo Freiheit zum Widerspruch gegen den bestehenden gesellschaftlichen Konsens in Anspruch genommen wird.

Denn jeder Fortschritt der demokratischen Gesellschaft muß im Widerspruch zum Status quo erstritten werden. Zu diesem Widerspruch bedarf es oft des Mutes oder, wie wir auch sagen, der Zivilcourage. Diese Bereitschaft zur freien, widersprechenden Meinungsäußerung muß erlernt, ihre positiven Folgen in der Gesellschaft müssen aber auch erfahren werden.

(Wird fortgesetzt)

 

Dr. Klaus von Dohnanyi, geb. 1928 in Hamburg, ist seit 1957 Mitglied der SPD. Von 1969 bis 1981 gehörte er dem Deutschen Bundestag an. Von 1972 bis 1974 war er Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, von 1976 bis 1979 Staatsminister im Auswärtigen Amt, von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg.

Der in dieser Serie dokumentierte Text basiert auf einem Vortrag der Akademie für Politische Bildung Tutzing in der vom Bayerischen Landtag veröffentlichten Fassung.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren