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19.06.04 / "Wir wollen freie Menschen sein" / Der 17. Juni 1953 sollte auch die Zweiklassengesellschaft in der SBZ zerstören (Teil I)

© Preußische Allgemeine Zeitung / 19. Juni 2004


"Wir wollen freie Menschen sein"
Der 17. Juni 1953 sollte auch die Zweiklassengesellschaft in der SBZ zerstören (Teil I)
von H. Gierschke

Durch ihre "Befreier" erlitten die Deutschen in Ost- und Mitteldeutschland von 1944/45 bis 1953 in einer historisch einmaligen - völkerrechtswidrigen - Weise millionenfach Mord, Vertreibung und Freiheitsberaubung sowie materielle Ausraubung und Verelendung, geistig-seelische Knebelung und ehrverletzende Beleidigung. Man verweigerte ihnen das gemeinsame Vaterland, sperrte sie ab 1952 hinter dem "Eisernen Vorhang" wie in einem Groß-KZ ein und ließ ihnen in der breiten Masse nur jenes Existenzminimum und jene "Freiheit", mit denen sie sich als Sklavenarbeiter der Sowjetunion gerade noch "reproduzieren" konnten. Die hiervon ausgenommene Minderheit der wesentlich besser gestellten Günstlinge des Sowjetsystems - und zumal die Spitzenfunktionäre der Parteien und die sogenannte Intelligenz - war hierbei nur jener Spaltpilz, der die Empörung gegen das System noch anheizte. (So betrug der monatliche Nettolohn eines ungelernten Arbeiters im Bereich Optik 148 Mark, der eines - auch in der Warenversorgung begünstigten - "besonderen Spezialisten" bis 15.000 Mark.)

So wurde der 17. Juni 1953 zum explosionsartigen Ausbruch des ab 1945 aufgestauten ungeheuren Hasses der deutschen Kriegs- und Frontgeneration gegen ihre Unterdrücker, Ausbeuter und Folterknechte - die Marionetten unter Führung der kommunistischen Funktionärsclique um Ulbricht - und gegen deren sowjetische Befehlshaber in Ost-Berlin und Moskau. In Anbetracht der riesigen sowjetischen Truppenansammlung und der völlig fehlenden Vorbereitung und Lenkung seitens der Aufständischen hatte diese Volkserhebung den Charakter eines irrationalen Befreiungsschlages mit der irrationalen Hoffnung auf Hilfe durch den Westen. Ihre weltpolitischen Folgewirkungen reichten dennoch bis zum 9. November 1989, dem Fall der Mauer in Berlin.

Wendet man sich nun einzelnen Fakten zu, die für die Entwicklung bis zum 17. Juni 1953 wesentlich waren, so muß man feststellen, daß sich bereits die Eroberung und Besetzung Ost- und Mitteldeutschlands durch die "ruhmreiche" Rote Armee 1944/45 als ein ungeheurer Raub- und Beutezug erwies, durch den bis Juni 1945 riesige Werte an Kultur- und Wirtschaftsgütern - auch aus West-Berlin - nach der Sowjetunion verfrachtet wurden. Im weiteren Verlauf dieses Raubzuges wurden in der gesamten SBZ von Juli 1945 bis 1953 - je nach Branche - 50 Prozent bis über 80 Prozent aller noch vorhandenen Betriebe der wichtigsten Industriezweige demontiert und nach dem Osten abtransportiert. Die übriggebliebenen Werkanlagen wurden häufig gesprengt und das führende Stammpersonal in Nacht- und Nebelaktionen in den Osten der Sowjetunion verschleppt.

Die gesamte Reparationsleistung der SBZ an die Sowjets erreichte von 1945 bis 1953 die riesige Summe von 66 Milliarden Mark, darunter allein Warenlieferungen aus der laufenden Produktion der verbliebenen Produktionskapazitäten und der mühsam ohne fremde Hilfe wiederaufgebauten Betriebe im Wert von 35 Milliarden Mark! Die in dieser Bilanz nicht enthaltenen ungeheuren deutschen Wertverluste und Schäden im Zuge der Bodenausplünderung durch den sowjetischen Uranabbau im Erzgebirgsraum können kaum abgeschätzt werden!

Parallel zur Ausplünderung und Ausbeutung Mitteldeutschlands lief ab 1945 dessen fortschreitende Sowjetisierung nach den Prinzipien des Marxismus-Leninismus, das heißt die Verstaatlichung aller Wirtschafts- und sonstigen Lebensbereiche unter Führung der moskauhörigen SED. Es folgte die Ausrichtung der gesamten Produktion in der SBZ auf die Bedürfnisse der Sowjetunion, deren industrieller Aufbau und deren machtpolitische Expansion nach 1945 in hohem Maße auf den Leistungen der mitteldeutschen Arbeiter beruhten.

Mit der Zuspitzung des Koreakrieges und dem Abschluß des "Deutschlandvertrages" mit Westdeutschland begann am 26. Mai 1952 schlagartig der Bau der "Grenzsicherungsanlagen" an der "Westgrenze" der SBZ und somit die Anlage einer kriegsmäßigen Frontlinie von Lübeck bis Hof, womit der Fluchtweg aus der SBZ nur noch über West-Berlin möglich war. Zugleich begann die allgemeine Militarisierung unter anderem mit dem Aufbau der "Gesellschaft für Sport und Technik" und der Planung eines Angriffskrieges gegen Westdeutschland. Die letzte Phase der totalen Sowjetisierung wurde mit der II. Parteikonferenz der SED eingeläutet, auf der der "Aufbau der Grundlagen des Sozialismus" proklamiert wurde. Dies bedeutete insbesondere die Zentralisierung des Staatsapparates unter Führung der SED, den Beginn der Kollektivierung in der Landwirtschaft sowie die Verschärfung des Kirchen- und Klassenkampfes und der Terrorjustiz gegen Andersdenkende. Diese Maßnahmen führten 1952/53 unter anderem zu einem erheblichen Anwachsen der Flüchtlingsbewegungen nach West-Berlin (im ersten Halbjahr 1952 rund 225.000) und zu einer kritischen Nahrungsmittelknappheit im Frühjahr 1953. Angesichts der ökonomischen Schwierigkeiten erließ die SBZ-Regierung am 18. Mai 1953 die folgenschwere Verordnung über die Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent, die eine Einkommensminderung bis zu 50 Prozent zur Folge gehabt hätte. (Der Stundenlohn von Zimmerleuten wäre von 2,80 Mark auf höchstens 1,80 Mark gesunken!)

Inzwischen war man nach Stalins Tod im März 1953 im Kreml angesichts der katastrophalen ökonomischen Entwicklung zu der Überzeugung gelangt, in der SBZ - zeitweise - einen "Neuen Kurs" proklamieren zu müssen. Dies geschah unter der Regie des nun zum "Hohen Kommissar" ernannten Semjonow durch das Politbüro der SED unter Ulbricht am 9. Juni 1953. Der "Neue Kurs" bedeutete jedoch keine Abkehr von der Generallinie, sondern nur eine Verlangsamung der Sowjetisierung in der SBZ. So sollten die Lebenshaltung verbessert und einige Sozialisierungsmaßnahmen aufgehoben oder abgeschwächt werden. Zugleich wurde erstmalig von der SED-Führung zugegeben, daß Fehler gemacht worden waren. So zeigte man an der Spitze Schwäche und erregte folglich Unsicherheit bis hinunter zum einfachen Genossen.

Doch der "Neue Kurs" vom 11. Juni 1953 ging überhaupt nicht auf die Frage der Arbeitsnormen ein. Dafür erklärte die FDGB("Gewerkschafts")-Zeitung Tribüne am 16. Juni 1953, daß die Beschlüsse vom 28. Mai 1953 über die Erhöhung der Normen in vollem Umfang richtig und bis 30. Juni 1953 mit aller Kraft umzusetzen seien. Das wirkte wie der Funke im Pulverfaß: Die empörten Bauarbeiter in der Stalinallee in Ost-Berlin jagen die Gewerkschafts-Funktionäre davon und beschließen den Streik. Hinter dem Transparent "Wir fordern die Herabsetzung der Normen" und mit Sprechchören wie "Kollegen reiht Euch ein - wir wollen freie Menschen sein!" marschieren sie in einem sich laufend verstärkenden Zug von über 10.000 Menschen zum "Haus der Ministerien". Dort entwickelt sich der Streik zur Volkserhebung. Die Volkspolizei (Vopo) steht bereit, greift aber nicht ein. Über die Senkung der Arbeitsnormen hinaus fordern nun Tausende in Sprechchören "Nieder mit der Regierung!" und "Freie Wahlen!" Ein Arbeiter ruft unter stürmischem Beifall zum Generalstreik auf. "Morgen früh, 7 Uhr, Straußberger Platz - Generalstreik!" schallt es nun pausenlos aus einem erbeuteten Lautsprecherwagen. An der Oberbaumbrücke werden am Sektorenübergang die Grenzschilder abgerissen: Es geht bereits um die Einheit Berlins und Deutschlands!

(Fortsetzung Folge 26)

Der Autor dieses Artikels, Oberst a. D. Dr. H. Gierschke, war Dozent der Wehrgeographie (Geostrategie) für die Generalstabsausbildung an der Führungsakademie der Bundeswehr.

Foto: Kundgebung 17. Juni 1953: Allein in Bitterfeld versammelten sich mehr als 30.000. Foto: BstU


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