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26.06.04 / Sing ein Lied

© Preußische Allgemeine Zeitung / 26. Juni 2004


Sing ein Lied
von Christel Bethke

Wahre Geschichten sind Geschichten, die das Leben "selber schreibt". Ausdenken kann man sie nicht, so unwahrscheinlich erscheinen sie. -

Endzeit. Ein Ende, auf das man gewartet und gehofft hat. Der Bürgermeister der kleinen Gemeinde bleibt bis zuletzt mit seiner Familie. Selbst als der Befehl endlich kommt, den Ort zu räumen, bleibt er wie ein Kapitän auf seinem sinkenden Schiff, hilft den Flüchtenden so gut er kann. Wer will zu dem Zeitpunkt schon wissen, was richtig, was falsch ist? Herrmann, der elfjährige Sohn, weiß schon gar nicht, was Sache ist. Papa und Mama haben bis jetzt alles richtig entschieden, findet er. Er vertraut auf sie.

Solche Geschichten gibt es viele, und man weiß, wie sie weitergehen. Jede ist dennoch einzig in ihrer Art, und Herrmannche, wie die Mutter ihren Sohn zärtlich nannte, hat auch seine. Und die geht so: Als die Befreier eintreffen, halten die sich natürlich erst an den Bürgermeister. Später wird auch seine Frau geholt. Mag sein, daß die Sieger nicht wissen, wohin mit dem Kind, so bewahren sie ihn im Gefängnis auf. Herrmannche, der so vertrauensvoll ins Leben starten sollte, sieht sich auf einmal vollkommen allein. Wie überlebt ein Kind im Gefängnis, was macht ein Kind da den ganzen Tag? Er verzagt nicht. Er fängt an zu singen. Er besinnt sich auf alle Lieder, die er kennt, erfindet welche, sucht nach Melodien aus seiner Kleinkinderzeit, kramt in seiner Erinnerung und wiederholt sie unablässig. Jeden Tag. Letztendlich werden sie es sein, die ihn befreien.

An einem frühen Wintertag geht seine Tante, die mit ihrer kleinen Tochter auf der Flucht eingeholt worden war, am Gefängnis vor-über und hört durch ein offenes Fenster jemanden singen. Aber das ist doch Herrmannche, denkt sie. Erkundigt sich und bekommt den Jungen frei. Sie behält ihn bei sich, bis andere Verhältnisse eintreten und das Kind seine Geschichte ohne sie weiterleben wird.

Nach mehr als fünfzig Jahren kehrt Herrmann an den Ort des Geschehens zurück. An seiner Seite die Frau, die ihn dazu ermutigte. Zauberhafte Tage, eine Luft, die Kehle und Brust frei macht, aber keine Traute, in den Ort selbst zu fahren. Dann aber doch. Schließlich ist er ja deswegen gekommen! Das Gefängnis steht. Immer noch Gitter vor den Fenstern. Auch vor dem, hinter dem das Kind sang. Alles ist wie damals. Herrmann macht Fotos, zeigt, erklärt seiner Frau, wie alles war, erzählt, endlich.

Auch das Elternhaus steht noch, freut er sich. Ist sogar in einem sehr guten Zustand. Während er das Haus fotografiert, öffnet sich die Haustür, und eine Frau, ungefähr seines Alters, tritt heraus. Sie stutzt einen Moment, geht dann auf ihn zu und sagt: "Du bist Herrmann." Es ist die Cousine, Tochter der Tante, die ihn aus dem Gefängnis holte. Sie bittet ihn nicht herein, Mißtrauen ist in ihre Augen getreten. Er wird später dafür Verständnis finden, nachdem er die Fotos an sie geschickt hat und ohne Antwort blieb.

Nein, er werde nicht mehr fahren, sagt er seinen erwachsenen Kindern, die das Verhalten der fernen Verwandten nicht verstehen können. Er versteht das. Er selbst ist auch mißtrauisch geblieben und irgendwie nur ein Gast auf dieser Erde.

Die Bewohner des großen Hauses, in dem er im Alter mit seiner Frau wohnt, hören ihn manchmal singen, und daraufhin angesprochen, erzählt seine Frau Herrmanns Geschichte und was für ein hinreißender Vater er seinen Kindern war. Jeden Abend bevor es ins Bett ging, berichtet sie, sang er ihnen ihr Lied. Jedes Kind hatte sein eigenes. "Wir hatten einen langen Flur", sagt sie, "und der Vater trug die Kinder nacheinander auf dem Arm, wanderte mit ihnen den Korridor entlang und sang. Heute noch können sie ihr Lied. Ist das nicht schön?"

Ein Enkelkind ist nun unterwegs, und an Liedern wird es nicht fehlen.

Gerhard Hahn: Der Treck hält an (Öl, 2003)


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