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10.07.04 / Ein Phänomen mit vielen Gesichtern / Rebecca Bellano besuchte die Ausstellung "Heidi: Mythos - Marke - Medienstar" in Hamburg

© Preußische Allgemeine Zeitung / 10. Juli 2004


Ein Phänomen mit vielen Gesichtern
Rebecca Bellano besuchte die Ausstellung "Heidi: Mythos - Marke - Medienstar" in Hamburg

Sie ist wohl weltweit die berühmteste Schweizerin. Heidi, das von der Schweizer Schriftstellerin Johanna Spyri erfundene Waisenmädchen, begeisterte seit seinem Erscheinen 1880 unzählige Leser weltweit. Bis heute hat sich das in 50 Sprachen übersetzte Buch über 50 Millionen Mal verkauft, und ein Abflauen ist nicht auszumachen. Es ist vielmehr so, daß die Figur Heidi einen neuen Boom erlebt. Das behauptet jedenfalls der am Volkskundlichen Seminar der Universität Zürich lehrende Professor Dr. Walter Leimgruber. Zusammen mit seinen Studenten hat er die Ausstellung "Heidi: Mythos - Marke - Medienstar. Das Phänomen Heidi" erstellt, die noch bis 22. August im Altonaer Museum in Hamburg zu sehen ist.

Die unterhaltsam gestaltete Ausstellung informiert über Heidi, die Autorin und die Art und Weise

wie die Figur Heidi im Laufe der Zeit interpretiert wurde. Zahlreiche Zeichnungen aus den unterschiedlichsten Ländern und Epochen zeigen, was man in Heidi sah und sehen wollte. So bekam Heidi viele Gesichter und Facetten und diese präsentiert die Ausstellung. Aber nicht nur in Büchern und Comics ist das Schweizer Waisenmädchen, das bei seinem Großvater in den Alpen aufwächst, zu bewundern, schon 1921 wurde in Hollywood der erste kolorierte Stummfilm gedreht, der heute leider nur noch in Fragmenten vorhanden ist. Weitere Verfilmungen, unter anderem mit Shirley Temple (1936), folgten. Doch die amerikanische Heidi gefiel den Schweizern nicht. Sie fanden es unerträglich, wie eine amerikanische "riesige Filmgesellschaft das Heidibuch der Johanna Spyri geplündert und verunstaltet hat, und wie ein Hollywoodfriseur ein Bergkinderhaupt mit amerikanischen Modelocken behängte" (Zürcher Illustrierte 1938). 1952 entstand dann nach dem Drehbuch eines Schweizers die vielen Deutschen bekannteste Heidiverfilmung, in der unter anderem Theo Lingen und Isa Günther mitspielten. In den 70ern entdeckten dann auch die japanischen Zeichentrickfilmer den Reiz von Heidi. In 52 Folgen ließen sie das Mädchen aus den Alpen mit dem Ziegenpeter und Klara seine Abenteuer erleben.

Gerade die Japaner sind von Heidi besonders angetan. So ist in der Ausstellung so manche Geschmack-losigkeit zu bestaunen, die man sich in Fernost zum Thema hat einfallen lassen. Aber auch die Schweizer haben neuerdings Heidi unter Marketingaspekten zu sehen gelernt. Schließlich ist die Kleine die berühmteste Schweizerin und da sich ihr männliches Gegenstück Wilhelm Tell nicht positiv verkaufen läßt, muß das Waisenkind herhalten. So wurde nicht nur die Ferienregion Heidiland geschaffen, sondern auch alle Orte und Institutionen zwischen Zürich und St. Moritz, die in irgendeiner Form mit Heidi und Johanna Spyri zu tun haben, in den Verbund MyHeidi zusammengefügt. Aber auch McDonalds, Mercedes, VW, Swiss-Air oder das Modelabel Moscino warben schon mit Heidi. Wobei so manches Werbeplakat, das eine blutjunge Frau im knappen Alpendress zeigt, eher an eines der sehr wohl auch vorhandenen Heidisexfilmchen erinnert als an die Figur des niedlichen Waisenmädchens.

"Vom Heidi-Land zum High-Tech-Land" wirbt die Schweiz für sich selbst, doch irgendwie wird hier das kleine Mädchen aus den Bergen, das sich in der großen Stadt Frankfurt nicht wohl fühlte, selbst von seinem eigenen Heimatland eher mißbraucht als geschätzt.

Johanna Spyri hat mit ihrer Figur Heidi die Suche nach Nähe und Geborgenheit, wie sie die Alm bietet, das Erleben von Verlust und Trennung, den Aufbruch in eine neue Welt sowie Zuversicht und Glaube thematisiert. Zugegeben, die Cha-raktere sind wenig differenziert, Gut und Böse zu schematisch gezeichnet, das Happyend ein wenig zu sentimental, aber trotz aller kritischen Stimmen hat Heidi die Jahrzehnte überdauert. Das mag vielleicht nicht zuletzt daran liegen, daß die Menschen sich heute in einer ähnlichen Ausgangslage befinden wie die Autorin 1880: Die Lebensumstände verändern sich rasant. Wo zu Zeiten Johanna Spyris die Industrialisierung in das Leben der Menschen eingriff, ist es heute die

Globalisierung. So sind Heidis Frankfurter Erlebnisse auch ein Mahnruf, dieser Modernisierung mit all ihren Folgen Einhalt zu gebieten, sich auf das traditionelle Leben und die ursprünglichen Werte zu besinnen, Geborgenheit zu finden. Gleichzeitig erfährt Heidi aber in Frankfurt auch wichtige Dinge. Nicht nur Lesen und Schreiben, sondern sogar das Überwinden von Krisensituationen lernt die Kleine von der Alm für ihr weiteres Leben im Hause Sesemann.

Das von Ernst Halter herausgegebene Buch "Heidi - Karrieren einer Figur" (Offizin Verlag, Zürich, geb., 295 Seiten, 39,95 Euro) bietet über diese Beurteilung der Figur Heidi für die Menschen der Gegenwart noch einige andere Lösungen an, doch hier ist so mancher Literaturkritiker, mancher Soziologe oder auch Emanze über das Ziel hinausgeschossen. Die Hamburger Ausstellung weist ebenfalls darauf hin, daß nicht nur die Werbung, sondern auch die Intellektuellen mit ihren verschiedenen Ideologien Heidi für sich entdeckt und teilweise noch schlimmer mißbraucht haben. So manche Deutung ist einfach haarsträubend.

Zieht man die Summe aus all den Eindrücken der Ausstellung, ist Heidi letztendlich immer noch in erster Linie das Waisenmädchen aus den Schweizer Alpen, das Geborgenheit sucht und den Menschen mit seinem natürlich naiven Charme verzaubert.

Heidi: Das Alpenmädchen als Fernsehstar, von Japanern gezeichnet, aber auch in Europa geliebt. Foto: Altonaer Museum


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