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17.07.04 / Digitale "Revolution / Internet für alle lautet die Losung der estnischen Regierung, doch die schafft auch Probleme

© Preußische Allgemeine Zeitung / 17. Juli 2004


Digitale "Revolution von oben"
Internet für alle lautet die Losung der estnischen Regierung, doch die schafft auch Probleme

E-Stonia, wie sich Estland anglisiert zukunftsbewußt nennt, ist führend in Sachen elektronischer Revolution und könnte bald Vorbild für ganz Europa sein. 74 Prozent der Bevölkerung haben ein Mobiltelefon (2004), und per Gesetz garantiert Estland den Zugang ins Internet, indem es öffentliche Internetstellen eingerichtet hat, die Bürger kostenfrei nutzen können. Kaum ein Este stattet seither seinem zuständigen Finanzamt oder einer Bank persönlich einen Besuch ab, es gibt alles via Internet.

Nicht ohne Stolz wirbt das Baltikumland über seine diplomatischen Vertretungen: "Estland hat der Informationstechnologie große Aufmerksamkeit geschenkt und auf jede Art und Weise versucht, die Entwicklung dieses strategischen Bereichs zu fördern. Bis zum heutigen Tage konnte sich Estland unter den mittel- und osteuropäischen Ländern einen der Spitzenplätze bei der Entwicklung der Informationsgesellschaft sichern."

Mit drei Großprojekten katapultierte sich das Land in die Informationsgesellschaft - das wohl ehrgeizigste erinnert namentlich eher an koloniale Unternehmungen - der "Tigersprung" führt jedoch nicht wie der "Panthersprung" nach Marokko, sondern auf dem Bildungssektor in die Weiten des weltweiten Datennetzes. "Hauptstraße" nennen sich selbstbewußt die Regierungsbehörden im Netz, der "Dorfweg" bleibt den Kommunen und öffentlichen Bibliotheken überlassen. Alle zusammen sollen sie als "E-Bürger-Projekt" den Esten den Zugang zu Behörden und Verwaltungen erleichtern.

Für staatliche Institutionen ist eine aktuelle Internetseite daher eine Pflicht, keine Kür. Ämter sind verpflichtet, E-Mail-Anfragen der Bürger zu beantworten. Öffentliche, kostenlose Internetcafés ermöglichen allen Bürgern jederzeit Zugriff auf das Netz und alle seine estnischen Verästelungen. Der kleine Staat macht sogar die Bündelung praktisch aller staatlichen Institutionen auf einer Seite möglich (www.riik.ee).

Beim Internetausbau allein bleibt das Land nicht stehen, eine elektronisch vernetzte Gesellschaft ist das Ziel. Estland geht dabei in manchen Bereichen weit über vergleichbare Pläne in anderen EU-Staaten hinaus: Bereits 2000 trat ein Gesetz zur Festlegung elektronischer Signaturen in Kraft. Man griff dabei auf das Wissen der Banken des Landes zurück, die durchaus nicht uneigennützig helfen, die technischen Voraussetzungen für verbindliche und sichere Unterschriften im Netz zu schaffen. Ein Drittel der Esten nutzt seitdem die Möglichkeit, Bankgeschäfte im Internet zu erledigen. Das umfassende Internet-Banking fördert wiederum die Entwicklung des gesamten elektronischen Handels, vom Versandkaufhaus bis zur Versteigerung. Schon jetzt hat Estland in diesen Bereichen zu den modernsten Staaten Europas aufgeschlossen. Im selben Jahr gewöhnte sich das Regierungskabinett die digitale Vorbereitung seiner Sitzungen an. Der Aktenmappe sagten die Politiker ade, die Sitzungen finden "online" statt.

Zirca 40 Prozent der estnischen Bevölkerung verfügen über einen eigenen Internet-Anschluß, 95 Prozent der Staatsbeamten haben einen Internet-Computer. Nach schwedischem Vorbild ist ein Personalausweis mit Chipkarte in Planung, der vom Geldabheben bis zur Krankenversicherung zahlreiche Funktionen vereint.

Dabei waren beim Zusammenbruch der Sowjetunion Computer in Estland Mangelware. Noch 1990 konnten selbst estnische Politiker froh sein, eine funktionierende Telefonverbindung ins Ausland zu bekommen. Vom Dorfladen bis zum Postamt bestückte die Regierung nach der Erlangung der Unabhängigkeit Hunderte von öffentlichen Einrichtungen mit Computern, sogar Verkehrszeichen zeigen den nächsten kostenlosen Zugang zum weltweiten Datenstrom an. Die radikale Wende zur kommunikativen Marktwirtschaft hat jedoch auch Schattenseiten.

Die sozialen Spannungen sind enorm gestiegen, viele Esten zeigen wenig Freude an der Netzgesellschaft. Die Selbstmordrate ist die höchste der Welt, Pensionäre, Arbeiter und Landbewohner profitieren wenig von der neuen Marktkultur. Eine berufliche oder finanzielle Perspektive kann ihnen das Internet nicht bieten, selbst wenn sie es mit dem Fahrrad erreichen. Statt dessen erleben sie, wie der Staat seine Ressourcen ungehemmt in die Hoffnungsbereiche der Informationsgesellschaft investiert. Als "Revolution von oben" entfaltet die Modernisierungsinitiative jedoch größtmögliche Wirkung.

Ob Videokonferenzen der Regierung und ein radikal liberalisiertes Wirtschafts- und Steuerrecht der Königsweg aus einer planwirtschaftlich geprägten Ausgangslage sind, mag bezweifelt werden - mehr Bürgernähe und Reformwille als manchem mitteleuropäischen Land ist Estland jedenfalls nicht abzusprechen. Sverre Gutschmidt

 

Kostenlos ins world wide web: An der Fernverkehrsstraße (Via Baltica) von Reval (Tallinn) nach Riga weisen Schilder auf ein Café und einen öffentlichen Internetzugang hin. Der Internetzugang ist für alle Esten kostenlos. Das Land mit 1,36 Millionen Einwohnern ist stolz auf die große Verbreitung der Informationstechnologie unter seiner Bevölkerung. Eine elektronisch vernetzte Gesellschaft ist das Ziel. Foto: pa


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