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31.07.04 / Ein Kindersommer

© Preußische Allgemeine Zeitung / 31. Juli 2004


Ein Kindersommer
von Christel Bethke

Kind, Kind, was soll aus dir bloß werden", schüttelt die Mutter bedenklich den Kopf, als sie ihre Tochter auf dem Apfelbaum entdeckt hat, wo diese natürlich wieder liest. Dabei hatte das Mädchen gedacht, es sei unsichtbar wie der Kalif, der sich mit seinem Vertrauten unter sein Volk mischt, um zu hören, was über ihn gedacht wird. Was über das Kind gedacht wird, hört es jeden Tag. Pech gehabt, nun muß es herunter von seiner Zuflucht und es versteckt das Buch schnell unter der Schürze.

Es war noch gar nicht so lange her, daß es die Welt der Bücher entdeckt hatte, seitdem war es wie besessen davon. Das sollte sich halten, sehr zum Leidwesen der Familie. Welche Vorstellungen hatte die Mutter - oder überhaupt die Familie - von der Zukunft des Kindes? Es blieb eine Träumerin. Zu nichts zu gebrauchen, und es wollte einfach nicht begreifen, worum es ging im Leben. Ja, worum ging es denn? Man hätte das Kind ja aufklären können. Doch vielleicht reichten die eigenen Worte dafür nicht aus? Man bestellte seine Felder, seine Gärten, hütete seine Tiere und vermehrte sie auf natürliche Art und Weise ohne Erklärung für das heranwachsende Kind. "Frag nicht soviel", wurde abgewehrt, wenn das Kind drängte.

"Du mußt nicht alles glauben, was man dir erzählt", war auch solch eine Weisheit der Erwachsenen, die nicht gerade ermutigend wirkte. Was denn nun - war die Erde wirklich rund und wenn ja, wie verhielt es sich mit dem vielen Wasser in den großen Ozeanen, von denen es gelesen hatte - auf einer Kugel? Oder war die Erde doch nur eine Scheibe und man ging und ging von Horizont zu Horizont ohne Ende? Also doch rund?

Gerade war elektrisches Licht in die Häuser gelegt worden und Onkel Erich besaß sogar ein Telefon! Wunder über Wunder geschahen. Wenn man das Ohr an einen Telefonmast legte, konnte man Stimmen vernehmen, oder war es nur das große Summen des Sommers, der brütend über dem Land lag? Die Nesselvorhänge vor den Fenstern halfen nur wenig gegen die Hitze. Das Feuer im Küchenherd mußte so niedrig wie möglich gehalten werden, mußte aber weiter brennen, weil ja gekocht werden mußte. Der Fliegenfänger hing schwarz von der Decke und das Geräusch der sterbenden Fliegen erfüllte die Küche.

Tiere hüten, das Liegen im Kraut, den Himmel andenken, den ziehenden Wolken nachsehen. Wohin die zu hütenden Tiere zogen, vergaß die Träumerin ...

Der Gang zum See, zur Badeanstalt. Aber erst Brot ins Netz und Limonade aus Brausepulver, mit Wasser aufgegossen. Welch eine Farbe, dieses Grün, dieser Waldmeistergeschmack, den das Kind eigentlich gar nicht so gut fand. Aber die Farbe hatte es ihm angetan. Brot und Schmalz waren naturbelassen und fetteten ohne Plastikfolie durch das Papier. Welch eine Kombination: Schmalzbrot und Waldmeisterbrause! Dieses Prickeln im Mund. Vorfreude kommt auf dem langen Weg zur Badeanstalt auf, vorbei an Lojewskis Herrenhaus direkt über dem See. Sollte das womöglich aus einem werden, Herrin in solch einem Schloß? Nicht übel, dann hätte man Personal und viel Zeit zum Lesen. Ob man heute Kantor Brehm wieder zu sehen bekam, wie er auf dem Rücken liegend im Wasser die Zeitung liest? Sein dicker Bauch würde ihn tragen, erzählten die größeren Kinder. Ob das stimmt? - Gedankengänge einer alten Frau, der immer noch der brütende, summende Sommer im Sinn ist und die Frage "Kind, was soll aus dir bloß werden?"

Was ist denn nun aus dem Kind geworden? Nicht viel. Kein Haus gebaut, keinen Baum gepflanzt, in den sich Kinder vor der Welt flüchten können. Nichts davon. Wäre "mehr" aus dem Kind geworden ohne Krieg und ohne Flucht? Wer will das beurteilen. Die Zweifler sind schon lange tot und viel hat sich verändert. Ist es nicht genug, wenn der Sommer immer noch groß ist und seine Erinnerungen mit sich bringt? Auch das gibt es noch: auf dem Rücken liegend im nahen See den Wolken nachsehen, die wohin ziehen? Kind, du mußt nicht soviel fragen ...


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