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28.08.04 / Maßgeschneidert

© Preußische Allgemeine Zeitung / 28. August 2004


Maßgeschneidert von der Stange
Innovation könnte die Textilbranche in strukturschwachen Grenzregionen revolutionieren 
von Hans-Jürgen Mahlitz

Es galt bislang als das Privileg der "oberen Zehntausend", sich in maßgeschneidertes Tuch zu hüllen statt in industriell gefertigte Massenkonfektion. Hingegen galt es bislang nicht als das vorrangige Problem der Menschen in den Jungen Bundesländern, ausgerechnet gegen dieses Privileg anzukämpfen; sie haben andere Sorgen. Wieviel dennoch das eine mit dem anderen zu tun haben kann, erfuhr eine Gruppe von Journalisten während einer Informationsfahrt des Bundespresseamtes, bei der das Bundesforschungsministerium seine "Innovationsinitiative Neue Länder" vorstellte. Dabei geht es vor allem darum, mittelständische Betriebe in strukturschwachen, grenznahen Regionen für die Herausforderungen der EU-Osterweiterung fit zu machen.

So starteten wir am Berliner Reichstagsufer gen Osten. Das Ziel: Forst in der Lausitz, am östlichen Rande der Republik, da, wo die Neiße heute die Grenze zu Polen markiert. Einst zählte die Stadt zu den Zentren der deutschen Textilfertigung, galt gar als "deutsches Manchester", mit fast 50.000 Einwohnern (1939), von denen Tausende in Bekleidungswerken, Tuchmachereien, Nähereien gutes Geld verdienten.

Zu DDR-Zeiten war die Stadt zwar schon spürbar geschrumpft, aber immer noch von der Textilindustrie geprägt. 1990, mit der Wende und der Wiedervereinigung, kam das jähe Aus. Zügig wurde ein Betrieb nach dem anderen "abgewickelt", da die Produkte weder den Mode- noch den Kostenvorstellungen des neuen, nunmehr gesamtdeutschen Marktes entsprachen. Die Bevölkerungszahl ist inzwischen auf 23.000 gesunken; wer konnte, floh vor der Arbeitslosigkeit in Richtung Westen.

Verstärkt wurde die Perspektivlosigkeit noch durch die EU-Osterweiterung: Jenseits des Grenzflusses warteten Billiglohnbetriebe auf den ungehinderten Zugang zum deutschen Markt. Und diesseits der Grenze wartete so mancher der noch verbliebenen Textilunternehmer darauf, sich nun endlich vom Joch hoher Arbeitskosten befreien zu können. Das Ende der Lausitzer Textilfertigung schien unabwendbar. Daß es eben doch nicht unabwendbar ist, sollten wir auf dieser Informationsreise erfahren.

Doch zunächst zurück nach Berlin. Im Stadtteil Adlershof, wo in den letzten Jahren ein großes Forschungs-, Entwicklungs- und Technologiezentrum entstanden ist, machen wir Zwischenstation bei der "Gesellschaft zur Förderung angewandter Informatik" (GFaI), einem kleinen, aber feinen Unternehmensnetzwerk, das durch pfiffige Ideen auf sich aufmerksam macht.

Zum Beispiel, so paradox das klingen mag, eine "akustische Kamera", die Schallquellen sichtbar machen und so alle möglichen Entwicklungsprozesse - etwa in der Baubranche, bei der Konstruktion von Autos oder Haushaltsgeräten, aber auch beim Aufspüren gesundheitsschädlicher Lärmquellen - vereinfachen, beschleunigen und verbilligen kann.

Paradox mutet auf den ersten Blick auch ein Projekt an, das bei unserem Besuch - auch in Hinblick auf die weiteren Stationen unserer Fahrt - im Vordergrund stand: eine 3-D-Meßkabine zur automatischen Körpermaßerfassung. Diese auch im wörtlichen Sinne innovative Maßnahme könnte Textilbranche und Modewelt revolutionieren. In Kombination mit weiteren Neuerungen wäre es möglich, maßgeschneiderte - somit hundertprozentig paßgenaue - Kleidung herzustellen, die nur unwesentlich teurer wäre als herkömmliche, industriell gefertigte Konfektion "von der Stange".

Tapfer stellen wir Besucher uns für "Experimente am lebenden Menschen" zur Verfügung, die sich dann aber als reichlich unspektakulär erweisen. Die Hightech-Wunderkammer ist deutlich größer als eine normale Umkleidekabine; auch wer zu Klaustrophobie neigt, fühlt sich hier nicht eingeengt. Man schließt die Tür, entkleidet sich bis auf die Unterwäsche und folgt einer freundlichen Stimme, die einem, optisch unterstützt über einen Monitor, sagt, was man weiter zu tun hat: Arme nach vorn, Arme seitwärts, um 90 Grad nach links drehen - nach 90 Sekunden ist die Prozedur überstanden. Vor allem Menschen, die es nicht lieben, wenn Schneiderei- oder Verkaufspersonal an einem "herumfummelt", werden diese Art berührungsfreier Vermessung zu schätzen wissen.

Bis ich mich wieder angekleidet habe, hat der Computer bereits ein Datenblatt ausgeworfen, dem ich entnehme, daß mein linkes Bein einen Millimeter kürzer als das rechte, der rechte Arm aber 1,9 Zentimeter länger als der linke ist. Der gemittelte Oberschenkelumfang gemahnt, sportliche Aktivitäten nicht nur auf das engagierte Zuschauen beim Aktuellen Sportstudio zu beschränken. Daß der Taillenumfang den Hüftumfang um 2,1 Zentimeter überbietet ist peinlich, aber unwiderlegbar. Hingegen zeigt sich der Halsumfang als die einzige Schwachstelle des Systems - eine volle Konfektionsgröße daneben!

Das Datenblatt enthält insgesamt 35 Körpermaße, also alles, was für den genauen Sitz von Hose oder Sakko, Kleid oder Anzug, Hemd oder Bluse vonnöten ist. Wir sind beeindruckt und treten die Weiterfahrt nach Forst an. Dort sollen wir erfahren, was "BodyFit", wie die GFaI ihr Computersystem nennt, sonst noch alles kann.

Drei Stunden später: Über holpriges Kopfsteinpflaster nähern wir uns dem Firmensitz der "Bekleidungswerke Forst GmbH". Ein Industriebau, der erahnen läßt, daß er auch schon bessere Zeiten gesehen hat. Der aber auch zeigt, daß er in die Hände von Menschen geraten ist, die nicht so leicht aufgeben, die mit den bescheidenen Mitteln, die ihnen zu Gebote stehen, daß Beste aus ihrer Situation und ihrer Fabrik machen.

Es ist wirklich "ihre Fabrik": Von den 450 Näherinnen, die noch 1990 hier im Rahmen des DDR-Textilkombinats Cottbus (TKC) Damenoberbekleidung hergestellt hatten, hatte keine einzige die folgenden vier Jahre Treuhand-Verwaltung überstanden. Die Fabrik wurde "abgewickelt" und zwei ehemaligen Mitarbeitern übergeben. 1997 erwarben schließlich die heutigen drei Gesellschafter das brachliegende Werk für den symbolischen Kaufpreis von einer Deutschen Mark.

Der Mut, in schier aussichtsloser Lage nicht aufzugeben, hat sich inzwischen ausgezahlt. Heute sind hier wieder 25 Arbeitnehmer, meist Näherinnen, beschäftigt. Für mittelständische Modehäuser in ganz Deutschland nähen die Forster Bekleidungswerke Kostüme oder Hosenanzüge, Kleider, Blazer oder Mäntel - insgesamt 150.000 Stück im Jahr. Davon allerdings nur 15 Prozent direkt vor Ort; 85 Prozent der Aufträge gehen an Klein- und Mittelbetriebe auf der polnischen Seite, im grenznahen Bereich.

Auf unsere skeptischen Fragen, ob das nicht nach dem EU-Beitritt Polens und Tschechiens bedrohlich sei, gibt Geschäftsführerin Bärbel Duschat eine klare Antwort: Ohne die Kooperation mit den ausländischen Betrieben wäre die eigene Firma längst pleite; die rund 300 polnischen Näherinnen, die natürlich zu viel niedrigeren Löhnen arbeiten, haben also keine Arbeitsplätze in Deutschland vernichtet, sondern dazu beigetragen, daß 25 Frauen in Forst nicht arbeitslos wurden. Sie empfinden die Osterweiterung der EU folglich nicht als Bedrohung, sondern als Chance.

Viele von ihnen geben sich im Gespräch betont optimistisch: "Schluß mit dem Jammern! Wir tun was! Und dann schaffen wir's auch!" Fest glauben sie daran, daß sie auch in Zukunft ihr Schicksal meistern werden. Ihre Zuversicht ist wohlbegründet. Selbst die Erwartung, schon im nächsten Jahr zusätzliche Arbeitsplätze einzurichten, erscheint nicht utopisch. Und das hat wiederum mit dem Projekt zu tun, dessen ersten Teil wir zuvor in Berlin-Adlershof kennengelernt hatten.

Viel schneller als unser Reisebus waren nämlich die von "BodyFit" ermittelten Maße einer Kollegin aus unserer Inforeisegruppe per Datenautobahn in die Lausitz gelangt. Zunächst nach Cottbus, wo sie vollautomatisch zu einem individuellen Schnittmuster für ein vorher ausgewähltes Modell (in diesem Falle ein fesches Sakko) verarbeitet wurden. Schnell war der Stoff geschnitten und nach Forst weitergeschickt; als wir eintrafen, war eine Näherin gerade mit den letzten Nadelstichen am linken Ärmel beschäftigt. Wenig später konnte Frau Kollegin das maßgeschneiderte Stück anziehen, konstatieren, daß es wirklich perfekt saß, und die komplimente der Kollegenschaft entgegennehmen.

Hinter dieser am Ende denn doch recht spektakulären Demonstration einer grundlegend neuen Technologie stecken viele Jahre harter Arbeit. Anno 2000 hatten die Forster Textilfabrikanten erstmals von dem Projekt "Industrielle Maßkonfektion - neue Technologien für eine industrielle Maßanfertigung" gehört. Sofort erkannten sie die Chance und schlossen sich dem Netzwerk "InnoRegio Textilregion Mittelsachsen" an. "InnoRegio" ist eines von vier Programmen des Langzeitprojekts "Unternehmen Region", einer Innovationsinitiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung für die Neuen Länder. Diese Offensive will die Strukturschwächen vor allem auch im mittelständischen Bereich bekämpfen; Ministerin Edelgard Bulmahn setzt hier für den Zeitraum 1999 bis 2007 insgesamt über 550 Millionen Euro (2004: 98 Millionen) ein.

Allein für "InnoRegio" stehen 255 Millionen Euro bereit. Ziel ist der Aufbau sich selbst tragender Netzwerke, die das Innovationspotential einer Region "zu einem wettbewerbsfähigen Leistungsprofil zusammenführen", wie es in der amtlichen Ausschreibung heißt. Aus 444 Bewerbungen wurden 23 regionale Initiativen ausgewählt, darunter, wie erwähnt, die mittelsächsische Textilbranche.

Dem selben Ziel, nämlich der Stärkung strukturschwacher Regionen, dient auch "Euro Textil Region", eine Unternehmerinitiative der Textil- und Bekleidungsbranche im grenznahen Bereich von Sachsen, Brandenburg, Polen und Tschechien. Seit 2000 haben sich hier 502 deutsche, 494 polnische und 473 nordböhmische Firmen mit insgesamt 71.000 Beschäftigten zusammengeschlossen. Vor vier Jahren hatten davon 44 Prozent grenzüberschreitende Wirtschaftsbeziehungen, Ende 2003 bereits 67 Prozent. Noch wichtiger als die quantitative aber ist die qualitative Entwicklung: Bis zum Jahr 2000 waren 95 Prozent aller grenzüberschreitenden Kooperationen auf die Nutzung des Lohngefälles zwischen Deutschland und Polen/Tschechien ausgerichtet. Dieser Aspekt tritt mehr und mehr in den Hintergrund; es wird damit gerechnet, daß in den nächsten zehn Jahren die Lohn- und Arbeitskosten im grenznahen Bereich soweit angeglichen sein werden, daß sie in der Kalkulation keine Rolle mehr spielen. Daher haben die Euro-Textil-Partner längst ihre Aktivitäten auf die gemeinsame Förderung technischer und logistischer Innovationen sowie die Entwicklung zeitgemäßer und marktfähiger Designkriterien verlagert. So trafen sich kürzlich acht Designschulen aus den drei Regionen erstmals zu einer einwöchigen Arbeitstagung.

Dies alles sind Projekte, denen sich auch unsere Gastgeber in Forst frühzeitig genug zugewandt haben. So betont die Geschäftsführerin des Bekleidungswerks, statt eines von vornherein aussichtslosen Wettbewerbs im Billiglohnsektor setze man auf hohe Fertigungsqualität - "made in Germany" soll auch in der Textilbranche alten Glanz zurückgewinnen. So könnte das traditionsreiche Lausitzer Textilzentrum Forst Standort eines Kompetenzzentrums werden, an dem hochspezialisierte Fachleute wie Bekleidungs- und Schnittkonstrukteure ausgebildet werden. Die größten Hoffnungen aber setzen die derzeit 25 Beschäftigten aber auf "BodyFit".

Dieses System könnte, wenn es sich am Markt durchsetzt, so aussehen: Die automatisch erfaßten Körperdaten des Kunden werden digitalisiert auf einen Plotter gegeben, der Schnittmuster und Stoffschnitt automatisch steuert. Die indivuellen Kundendaten lassen sich sogar dreidimensional zu einer virtuellen Anprobe nutzen.

Der Kunde selbst hat nach der berührungsfreien Körpermaßerfassung mit dem ganzen Vorgang nichts mehr zu tun, bis er schließlich das fertige Produkt in Händen hält. Ob Hemd oder Hose, Sakko oder Rock - es paßt genau und braucht nicht mehr geändert zu werden. Und der Preis liegt - bei gleicher Qualität von Design und Stoff - nur um zehn bis maximal 25 Prozent über dem industrieller Massenprodukte (was häufig durch die Preise der Änderungsschneidereien wieder ausgeglichen wird).

Das Beispiel lehrt: Auch "totgesagte" Branchen und Regionen können überleben, wenn alle Beteiligten und Betroffenen Mitziehen und sich engagieren, Mut zu Innovationen und unkonventionellem Handeln haben, statt zu resignieren und nur das eigene traurige Schicksal zu bejammern. Die im Vergleich zur Großforschungsförderung hier eingesetzten Mittel der Bundesregierung sind jedenfalls gut angelegt.

PS: Lütfi "Toni" Özdemir, durch dessen kundige Schneiderhände seit Jahren alle meine neuen Hosen, Hemden und Jacken gehen, weil Ärmel und Beine grundsätzlich zu lang sind, hat die Zeichen der Zeit sofort erkannt. Als ich ihm von "BodyFit" erzählte, meinte er, das sei doch eine tolle Chance auch für kleinere mittelständische Handwerksbetriebe; er jedenfalls sei an dieser Innovation sehr interessiert.

 

"Innovative Maßnahme": Während Schneidermeister Özdemir noch auf klassische Weise Maß nimmt, um festzustellen, um wieviel Zentimeter die Ärmel diesmal zu lang sind, kann der innovationsbewußte Kunde der Zukunft sich vollautomatisch und berührungsfrei vermessen lassen - eine Technik, die möglicherweise die gesamte Textil- und Modebranche revolutioniert und auch in Hochlohnländern wie Deutschland neue Chancen eröffnet. Fotos: GFaI/Mahlitz


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