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28.08.04 / Begehrliche Blicke / Abwanderung, Armut, Mißwirtschaft und südostasiatische Einwanderung bedrohen Russisch-Fernost / Teil II

© Preußische Allgemeine Zeitung / 28. August 2004


Begehrliche Blicke von allen Seiten
Abwanderung, Armut, Mißwirtschaft und südostasiatische Einwanderung bedrohen Russisch-Fernost / Teil II
von A. Rothacher

Etwa 60 Prozent der Einwohner Russisch-Fernosts sind außerhalb der Region geboren. Von besseren Verdienst- und Aufstiegs-chancen angelockt, hatten sie sich bis 1989 in der unwirtlichen Gegend niedergelassen. In aller Regel beabsichtigten die meisten, vor ihrer Pensionierung mit 55 Jahren in ihre osteuropäische Heimat, zu der die Verbindung selten abriß, zurückzukehren. Im Blick auf ausbleibende Gehälter, die wirtschaftliche und physische Unsicherheit, die schmerzlichen Versorgungsengpässe, bei denen Elektrizität, Heizöl und selbst Leitungswasser im Winter oft ausfallen, fällt den meisten der Entschluß zur Rückkehr leicht. 1991 setzte mit seither 100.000 Menschen pro Jahr die Abwanderung - oft nach Krasnodar oder Rostow am Don - machtvoll ein. Seit 1993 wurde zusätzlich auch der "natürliche Zuwachs" der relativ jungen Region negativ: Die Sterberaten übertreffen die Geburtenziffern. Am stärksten ist die Abwanderung in den menschenarmen Nordprovinzen. Dort betrug der Bevölkerungsverlust im letzten Jahrzehnt 50 bis 60 Prozent. Im relativ dichter besiedelten Süden entlang von Ussuri und Amur erst noch zehn Prozent. Viele der Arbeitslosen und Rentner der südlichen Städte werden von ihrer Armut an der Rückwanderung gehindert. Denn der Staat hält sein früheres Anwerbungsversprechen von Gratisrückfahrten nicht mehr. Die Hyperinflation der frühen 90er Jahre und der Bankenkollaps von 1998 hat ihre Lebensersparnisse vernichtet. Die teuren Fahrscheine der Transsib sind damit für viele unerschwinglich geworden. Wer nicht von seiner Familie ausgelöst wird, ist in seiner Armut in Fernost gefangen.

Oft werden entlegene Bergwerkssiedlungen zur Gänze verlassen und aufgegeben. Der Tag ist absehbar, an dem die eingesessenen Volksgruppen der Jakuten, Chukchi und Koryaken, die meist in ihren armen Dörfern von der Wirtschaftskrise kaum betroffen weiter der Jagd und Fischerei nachgehen, wieder die Mehrheit als Titularnation ihrer Oblaste beziehungsweise der "Republik Sakha" (Jakutien) stellen. In dem Jüdischen Autonomen Bezirk mit der Hauptstadt Birodischdan dagegen sank der Anteil der von Stalin dorthin verbrachten Juden von ursprünglich 23 Prozent auf nur noch vier Prozent (15.000 Menschen), nachdem die meisten nach den USA und Israel ausgewandert sind.

Attraktiv ist Russisch-Fernost nur für seine südlichen Nachbarn: Die 130 Millionen Chinesen, die in der überbevölkerten Mandschurei, dem wirtschaftlich darniederliegenden "Rostgürtel" Chinas, und in der Inneren Mongolei wohnen, sowie die 26 Millionen Nordkoreaner, die im stalinistischen Armenhaus und Hungerparadies des Despoten Kim Jong Il ihr Dasein fristen.

1938 hatte Stalin alle Chinesen, die damals noch die Bevölkerungsmehrheit in Wladiwostok stellten, aus Fernost vertreiben lassen. Heute leben legal wieder 200.000 Chinesen - drei Prozent der Bevölkerung - in Fernost. Die Zahl der Illegalen wird offiziell auf 400.000 geschätzt. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich eher bei zwei Millionen. Für alle Chinesen ist eine visumfreie Einreise für bis zu 30 Tage möglich, genug Zeit, um sich von Landsleuten aus der Unterwelt die richtigen Papiere zu beschaffen.

Mittlerweile betreiben die Chinesen alle Kasinos und die meisten Hotels und Gaststätten der Region. Sie arbeiten als Schuster, Näher, als Land- und Forstarbeiter sowie in Baukolonnen. Für Arbeitgeber sind die chinesischen und nordkoreanischen Arbeitskolonnen sehr begehrt, weil sie fleißiger und billiger sind sowie klaglos länger arbeiten als die Russen.

Gouverneur Sergei Darkin lud kürzlich 200.000 Nordkoreaner als zusätzliche Arbeitskräfte ein. Denn von Koreanern, von denen bereits 500.000 in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion verstreut leben, fühlen sich die Russen im Gegensatz zu Chinesen und Japanern, die mit den Südkurilen noch offene Gebietsansprüche stellen, nicht bedroht.

Wegen des Mangels an Arbeitskräften wird nur noch ein Drittel des Ackerlandes von Russisch-Fernost bestellt. Nordkoreanische Land- und Bauarbeiter verlangen mit 100 US-Dollar monatlich nur die Hälfte des Lohns eines Russen. Chinesische Näherinnen fertigen Hemden für den US-Markt für gar nur elf US-Cents die Stunde in den von Südkoreanern organisierten Textilfabriken. Die Arbeit von Russinnen würde das Fünffache kosten. Die meisten Chinesen leben unauffällig in den Vorstädten von Chabarowsk und Wladiwostok, die mehr als 600.000 Einwohner haben, und in Grenzstädten wie Ussurisk, Pogranichni und Blagoveschchensk, wo sie schon die Mehrheit der Bevölkerung stellen.

Unter der Federführung der Industrie- und Entwicklungshilfeorganisation der Vereinten Nationen (Unido) sollte das Grenzgebiet von China, Rußland und Nordkorea im Tumendelta gemeinsam entwickelt werden. Bei einem Staatsbesuch in Moskau im Juni 2003 schlug der chinesische Premier Hu Jintao eine Pacht der Häfen Posiet und Zarubino an der Mündung des Tumen für 49 Jahre vor. China würde die verrottenden Häfen auf die zehnfache Kapazität ausbauen und 34 Eisenbahnkilometer in die Nordmandschurei, die so endlich einen direkten Zugang zum Japanischen Meer und zum Pazifik erhielte, finanzieren. Putin lehnte brüsk ab. Zu stark ähnelte das Projekt jener Mandschurischen Eisenbahn, die das Zarentum seinerzeit, auf dem Höhepunkt des europäischen Einflusses in Ostasien, nach Port Arthur (heute: Dalien) hatte bauen lassen, um das ganze Gebiet prompt zur russischen Einflußsphäre zu erklären. Seit dem Zerfall der Sowjetunion reagiert die - gesteuerte - öffentliche Meinung in Rußland allergisch auf die Andeutung weiterer Gebietsverluste. Deshalb gelang es den Japanern trotz attraktiver Offerten mit gesichtswahrenden zeitlich verschobenen Souveränitätstransfers bislang auch noch nicht, die von der Sowjetunion 1945 illegal annektierten Südkurileninseln zurückzukaufen. China dagegen weiß die Zeit auf seiner Seite. Unverdrossen bereitet es die infrastrukturellen Vorarbeiten für die Rückgewinnung von Fernost vor. Von Dalien ausgehend wird der Bau einer Eisenbahnlinie in Angriff genommen, die nunmehr auf chinesischer Seite den Osten und Norden der Mandschurei bis zur russischen Grenze verbindet.

Auf russischer Seite wird versucht, dem anscheinend unweigerlichen Verlust an Territorium und Wirtschaftsmacht durch Megaprojekte der sowjetischen Tradition entgegenzusteuern. So ist seit 1966 schon eine transkontinentale Autobahn von Wladiwostok bis Moskau im Bau, für deren 2.200 Kilometer langes Teilstück am Amur die Osteuropabank EBRD kürzlich 25 Millionen US-Dollar beisteuerte. Mit einem Pipelineprojekt aus Ostsibirien spielt die russische Führung ihr übliches Katz- und Mausspiel. Seit einem Jahrzehnt verspricht Moskau in vielen Gipfelkommuniques sowohl China wie Japan jeweils sich ausschließende Streckenführungen für das sibirische Öl.

Sie haben einen gemeinsamen Ursprung: Angarsk oder Taischet im südlichen Ostsibirien. China wünscht als Zielort die Raffinerien von Daqing in der Mandschurei. Diese Pipeline wäre nur 2.400 Kilometer lang und würde 1,8 bis 2,4 Milliarden US-Dollar kosten. 400.000 Tonnen pro Tag könnten in die ölhungrige Petrochemie der Nordmandschurei gepumpt werden. Der japanische Gegenentwurf, der aus geopolitischen Gründen den Segen von Putin und den Amerikanern findet, ist mit 4.000 Kilometern länger und führt über erdbebengefährdete Taiga und Gebirge bis nach Nachodka an die Pazifikküste. Dort könnten nicht nur Japaner, sondern auch andere Pazifikanrainer russisches Öl kaufen. Doch Moskau läßt sich mit einer Entscheidung Zeit. Den Japanern schickt es statt der bisherigen Kostenschätzung von fünf bis sechs Milliarden US-Dollar einen neuen Kostenvoranschlag über zwölf Milliarden US-Dollar zur allfälligen Finanzierung, ein Preis, der jegliche Rentabilität weit übersteigt.

Als einstige Strafkolonie des Zaren spielte Sachalin, dessen Südhälfte ("Karafuto") unter japanischer Herrschaft von 1905 bis 1945 entwickelt wurde, von jeher eine Sonderrolle. Seit 1999 fördern die auf dem Kontinentalsockel dem Norden der Insel vorgelagerten Ölfelder Sachalin I und II reichlich Öl und Erdgas. Die Vorkommen sind zwar kleiner als die der Nordsee, doch sind sie

für die Energiewirtschaft Nordostasiens nicht unwichtig. Sachalin I (entwickelt von Exxon Mobil, Itochu und Marubeni) sowie Sachalin II (erschlossen durch Shell, Mitsui und Mitsubishi) sind mittlerweile auch mit langfristigen Lieferverträgen für Flüssiggaslieferungen an die führenden Elektrizitätswerke Japans rentabel. Doch auch in Sachalin ist die Abwanderung groß. 1995 hatte ein Erdbeben die Stadt Neftegorsk zerstört und 2.000 Menschen getötet. Der Ölboom wird bestenfalls 9.000 Arbeitsplätze schaffen. Für mehr als die Hälfte der noch verbliebenen 500.000 Einwohner Sachalins bleibt jedoch weiter nur ein Leben unter der Armutsschwelle.

Kontrollbesuch eines Despoten: Der nordkoreanische Staatschef Kim Jong Il beim Besuch in Wladiwostok. Hundertausende von seinen 26 Millionen Untertanen finden in Russisch-Fernost Arbeit, da die Russen selbst verstärkt die unwirtliche Region verlassen. Nordkoreanische Land- und Bauarbeiter verlangen zudem nur die Hälfte des Lohnes eines Russen. Foto: AP


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