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04.09.04 / Die gängigen Rezepte greifen nicht / Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt über Fehler und Chancen des stagnierenden "Aufbau Ost" / Letzter Teil

© Preußische Allgemeine Zeitung / 04. September 2004


Die gängigen Rezepte greifen nicht
Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt über Fehler und Chancen des stagnierenden "Aufbau Ost" / Letzter Teil

Der Aufbau Ost kann nur gelingen, wenn in Deutschland insgesamt wichtige Reformvorhaben umgesetzt werden. Neben einem Aufbrechen der verkrusteten Strukturen am Arbeitsmarkt ist eine Reform der Systeme der sozialen Sicherung und eine Vereinfachung des Steuerrechts notwendig.

Dauerhaft wirksame Reformen der sozialen Sicherungssysteme wurden in der Vergangenheit immer wieder auf die lange Bank geschoben. Inzwischen führen die Entwicklungen am Arbeitsmarkt zu einer fortschreitenden Aushöhlung der Finanzierungsgrundlagen aller Teile der Sozialversicherung. Dies hat eine Erhöhung der Bundeszuschüsse oder Leistungsreduzierungen beziehungsweise das Ansteigen der Beitragssätze zur Folge. Die Kosten der sozialen Sicherungssysteme erhöhen die Arbeitskosten und mindern dadurch die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen. Sie hemmen die Existenzgründung und die Entstehung von Arbeitsplätzen.

Die Kosten der sozialen Sicherung sollten soweit möglich vom Arbeitseinkommen abgekoppelt werden, um einen weiteren Anstieg der Lohnkosten zu stoppen. Die Arbeitgeber zahlen künftig ihren Anteil an Kranken- und Rentenversicherung direkt als Lohnzuschlag aus. Wichtig ist dabei, daß dieser Anteil auf dem jetzigem Niveau fixiert wird.

Die Praxis der Frühverrentung verschärft die Probleme in der Sozialversicherung. Der Generationenvertrag kann nicht funktionieren, wenn diejenigen, die eigentlich auf der Seite der Leistungserbringer stehen sollten, ohne Abschläge zu Rentenempfängern werden. Die allein durch die Alterung unserer Gesellschaft bestehende Schieflage zu Lasten der Erwerbstätigen und Unternehmer, die durch steigende Rentenbeiträge belastet werden, sollte daher nicht auch noch durch Anreize zur Frühverrentung verstärkt werden.

Wenn man Arbeit schaffen will, darf man das Nicht-Arbeiten nicht prämieren. Diese Devise muß auch im Rentensystem berücksichtigt werden. Deshalb sollen in Zukunft Frühverrentungsmöglichkeiten - im Rahmen der heute geltenden Fristen - nur zu korrekt berechneten Abschlägen gewährt werden. Dabei soll ein unbeschränkter Hinzuverdienst erlaubt sein, so wie es heute schon für Rentner über 65 Jahre der Fall ist.

Nicht nur die steigenden Kosten der sozialen Sicherung belasten die Unternehmen und verhindern die Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern auch das deutsche Steuerrecht. Die Zahl der steuerlichen Vorschriften ist in den letzten Jahren drastisch angewachsen. In immer kürzeren Abständen werden die Steuergesetze geändert. Kaum ein Steuerpflichtiger versteht das für ihn maßgebliche Steuerrecht mit vertretbarem Aufwand.

Dieses Problem schlägt in Ostdeutschland insofern stärker zu Buche, als auf Grund der im Vergleich zum Westen geringeren Unternehmensgröße die im Zusammenhang mit der Besteuerung anfallenden Kosten überproportional hoch sind. Das komplizierte Steuerrecht erschwert Existenzgründungen und behindert damit die Schließung der Unternehmerlücke in den neuen Bundesländern. Insbesondere kleinere Unternehmer müssen sich entweder zu Lasten der Leitung ihres Unternehmens mit steuerrechtlichen Fragen befassen oder diesen Sachverstand entsprechend einkaufen.

Die zahlreichen steuerlichen Begünstigungen führen oft dazu, daß Unternehmen Investitionsentscheidungen oder die Wahl der Rechtsform nicht danach treffen, was wirtschaftlich sinnvoll, sondern steuerlich vorteilhaft ist. Das deutsche Steuerrecht ist radikal zu vereinfachen und transparenter zu gestalten. Das erhöht die Akzeptanz des Steuerrechts und verringert die Möglichkeit der Steuerhinterziehung. Sämtliche steuerliche Begünstigungstatbestände sind auf den Prüfstand zu stellen, und ihre Zahl ist drastisch zu reduzieren. Die Streichung von Begünstigungstatbeständen verbreitert die Bemessungsgrundlage, und folglich können die Steuertarife sinken. Damit werden Unternehmen von Kosten entlastet und eine Hürde auf dem Weg zur Existenzgründung beseitigt.

Der Aufbau Ost ist ins Stocken geraten, die gängigen Rezepte greifen nicht mehr, ein neuer Ansatz ist zwingend erforderlich. Ein zentraler Baustein für einen erfolgreichen Aufbau Ost muß die Rückbesinnung auf marktwirtschaftliche Elemente sein. Die alte Bundesrepublik konnte sich in den 50er und 60er Jahren deswegen so gut entwickeln, weil es weniger Eingriffe des Staates gab. Ein Unternehmer konnte sich auf die Verwirklichung seiner Geschäftsidee konzentrieren und mußte sich nicht in dem Maße wie heute mit verwaltungs- und steuertechnischen Belangen befassen. Die staatlichen Ausgaben haben sich stärker an Grundfunktionen des Staates orientiert und dienten weniger Eingriffen in das Wirtschaftsgeschehen oder der Befriedigung konsumtiver Bedürfnisse.

In der Politik muß der Wettbewerb wieder stärker zur Geltung kommen. Politik ist als Entdeckungsverfahren zu begreifen, das die besten Lösungen prämiert, Nichtstun und falsche Konzepte dagegen bestraft. So, wie eine lebhafte Konkurrenz unter Unternehmen wirtschaftliche Dynamik erzeugt, so wird der politische Wettbewerb eine politische Dynamik erzeugen, die unser Land voranbringt.

Einen wichtigen Beitrag für ein Gelingen des Aufholprozesses muß die Tarifpolitik leisten. Auch diese muß sich stärker an den marktwirtschaftlichen Erfordernissen ausrichten. In den zukünftigen Tarifverhandlungen müssen insbesondere die Wachstumsaspekte wieder stärker in den Vordergrund rücken. Dasselbe gilt für die staatliche Wirtschaftsförderungs- und Infrastrukturpolitik. Sie muß sich mehr als bisher am Ziel des wirtschaftlichen Wachstums orientieren.

Die sich abzeichnenden dramatischen Verwerfungen aus der demographischen Entwicklung müssen in der politischen Entscheidungsfindung deutlich stärker berücksichtigt werden. Schließlich stehen uns die wahren Folgeprobleme veränderter Bevölkerungsstrukturen und des Bevölkerungsrückgangs noch bevor. Dies gilt für ganz Deutschland. Hinsichtlich der demographischen Entwicklung sind die neuen Länder Vorreiter eines Prozesses, der sich in den alten Ländern mit Verzögerung und möglicherweise abgeschwächt auch einstellen wird. Die in den ostdeutschen Ländern notwendigen politischen Reaktionen auf ökonomische wie soziale Veränderungen sind - nicht nur deshalb - Signal und Chance für das gesamte Land. Was nicht nur Ostdeutschland in der jetzigen Situation am dringendsten benötigt, ist eine Phase der Aufbruchstimmung. Der von Altbundespräsident Roman Herzog geforderte "Ruck" ist noch nicht in hinreichendem Maße durch die Bundesrepublik gegangen.

Aufbruchstimmung kann man erzeugen, indem man darauf hinweist, daß Erfolge möglich sind: Die Entwicklung beispielsweise Irlands zeigt, daß strukturschwache Regionen stark werden können. Dies war keine Entwicklung über Nacht, sondern ein längerer Prozeß. Nach und nach haben immer mehr Unternehmer auf der Insel investiert, irgendwann war eine kritische Masse erreicht, die andere Unternehmen nachgezogen hat. Irland hat sein Problem nicht in erster Linie durch Subventionierung gelöst, sondern als sehr kostengünstiger Standort. Will Ostdeutschland der grüne Tiger Deutschlands werden, müssen wir mit unseren Pfunden, geringeren Arbeitskosten, schnelleren Genehmigungen und gut ausgebildeten Fachkräften, wuchern und sie nicht verspielen.

Eine Aufbruchstimmung erzeugt man jedoch nicht nur allein dadurch, daß man auf die Chancen von Veränderungen hinweist, sondern vor allem auch, indem man den Bürgern die Wahrheit sagt. Deutschland ist innerhalb weniger Jahre unter den Mitgliedern der EU von Platz 3 auf Platz 11 abgerutscht. Während ein solch dramatischer Abstieg im Bereich des Fußballs reflexartig eine nationale Debatte über eine Erhöhung der Leistungsfähigkeit, neue Trainingsmethoden und neue Strategien nach sich ziehen würde, wird auf dem Spielfeld der Wirtschafts- und Sozialpolitik nach wie vor zu stark darauf gesetzt, daß sich die Probleme irgendwie von selbst lösen werden - insbesondere mit dem nächsten Aufschwung - und daß dem schleichenden Niedergang durch ein Kurieren an den Symptomen entgegengewirkt werden kann. Deutschland hat jedoch ein strukturelles Problem. Das Haus Deutschland kann nicht durch neue Tapeten und einen neuen Außenanstrich zukunftsfest gemacht werden, vielmehr bedürfen die Fundamente einer dringenden Sanierung.

Was für Deutschland insgesamt gilt, gilt noch stärker für die neuen Bundesländer. Während der Westen zumindest noch von seiner Substanz zehren kann, verfügt der Osten nicht über eine solche. Gegenüber dem Westen haben die Menschen im Osten jedoch einen entscheidenden Vorteil: Sie haben schon eine Wende mitgemacht und wissen daher, wie man mit Veränderungen umgeht.

 

Georg Milbradt wurde am 23. Februar 1945 in Eslohe/Sauerland geboren, aufgewachsen ist er in Dortmund, wo die Familie, die aus Wongrowitz in der Nähe von Posen stammt, nach Kriegswirren und Flucht schließlich landete. 1964 machte er in Dortmund sein Abitur. Im selben Jahr begann er ein Studium der Fächer Volkswirtschaft, Jura und Mathematik an der Universität Münster, welches er 1968 mit dem Diplom als Volkswirt und der Note "sehr gut" abschloß. 1973 promovierte er zum Dr. rer. pol. "summa cum laude". 1980 erhielt er die Lehrbefugnis für das Fach Volkswirtschaft. In den Jahren 1983 bis 1990 war er als Finanzdezernent der Stadt Münster tätig. Von November 1990 bis Februar 2001 war er sächsischer Staatsminister der Finanzen. 1973 wurde er Mitglied in der CDU, und 1991 wurde er in den Landesvorstand, im November 1999 zum stellvertretenden Landesvorsitzenden der sächsischen Christdemokraten gewählt. Im September 2001 wurde er dann Landesvorsitzender der Sachsen-CDU. Seit dem 18. April 2002 hat Georg Milbradt das Amt des Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen inne.


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