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18.09.04 / Das verschwundene ABC

© Preußische Allgemeine Zeitung / 18. September 2004


Das verschwundene ABC
von Gabriele Lins

Florian warf seinen nagelneuen Schulranzen achtlos auf den Waldboden und seufzte. Eine Woche ging er nun schon zur Schule, aber dort gefiel es ihm gar nicht. Wie konnte er sich bloß davor drücken?

Plötzlich ein lauter Knall. Zu seinen Füßen riß die Erde auf und weitete sich zu einem großen Loch aus. Florian wollte schon weglaufen, aber seine Neugier siegte. Von unten drang eine murmelnde Stimme dumpf zu ihm herauf und kam immer näher. Eiskalt lief es ihm über den Rücken. Jetzt bemerkte er eine Leiter und zwei kleine Hände, die sich an die oberste Sprosse klammerten; ein rundes Kindergesicht, umrahmt von dichtem rotem Haar sah ihn unsicher an. "2130 ...", rief der Rotschopf und sprang aus dem Loch. Rotes Fell, schwarze Hörnchen, ein Schwanz mit Quaste - das sah ganz nach einem Teufelchen aus.
Als Florian sich von seinem Erstaunen erholt hatte, fragte er: "Wo kommst du denn her?" - "Ich komme direkt aus der Hölle. Sieht man das nicht?" Florian kicherte: "Logisch, und ich bin ein vom Himmel gefallener Engel." - "Ehrlich?" fragte der kleine Teufel und Florian lachte. "Ich bin 7 Jahre alt und gerade in die Schule gekommen", stellte er sich vor, "aber dort gefällt es mir nicht." - "Und ich bin Max", erwiderte das Teufelchen, "wie alt ich bin, weiß ich nicht. Vielleicht 100? - Und was ist Schule?"
"Wenn du wirklich aus der Hölle kommst", sagte Florian, "dann kannst du doch auch unsere Buchstaben wegzaubern und am besten unseren Lehrer gleich mit." Max zuckte die Achseln. "Na ja, wenn ich mich anstrenge." - "Dann komm mit!" Florian ließ den Kleinen hinter sich auf sein Rad steigen. "Weißt du, meine Eltern sind gerade nicht da."

In Florians Zimmer entdeckte Max gleich einen Staubsauger. "Der ist richtig", sagte er und hielt das Rohr hoch, und auf einmal machte es "zschschsch ...!" und durch das offene Fenster kamen reihenweise bunte Buchstaben geflogen und verschwanden im Staubsauger.
"So!" Max wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Das waren die Buchstaben aus allen Computern, Fernsehern und Büchern eurer Stadt. Zufrieden?" - "Spitze!" jubelte Florian.

In den nächsten Wochen wurden alle Kinder mit Bussen in die Schulen der nächstliegenden Städte gebracht, weil es im eigenen Ort nicht den kleinsten Buchstaben mehr gab. Und alle kamen kaum noch zum Spielen, weil ihnen die Fahrerei viel Zeit wegnahm.
Florian bekam allmählich Spaß am Schreiben und Lesen und dachte: ´Meine Idee vom Buchstabenwegzaubern war eine Schnapsidee. Ich muß weite Wege in die Schule fahren um zu lernen und auch noch einen kleinen Teufel in meinem Schrank verstecken, weil der nicht mehr in die Hölle zurück will. "Max", rief er, "steig aus dem Schrank, die Buchstaben müssen wieder her!"

Max seufzte, aber er tat, was sein Freund wünschte. Als die beiden allein im Haus waren, leerten sie sämtliche Staubsaugerbeutel, die versteckt hinter alten Kleidern im Schrank gelegen hatten, auf dem Teppich aus. Max senkte feierlich die kleinen Hände in den bunten Buchstabenberg und warf alle Buchstaben durch das Fenster. Sie fielen aber nicht auf den Boden, sondern tanzten eine Weile lustig im Wind, ehe sie sich zu einer geraden Linie formten und wie die Wildgänse über die Dächer davonflogen. "So", sagte Max stolz, "die Dinger sind wieder in den Computern, Fernsehern, Heften und Büchern eurer Stadt."

Eine Taube mit zartblauen Flügeln saß plötzlich auf dem Fensterbrett und pickte mit dem Schnabel gegen die Scheibe. Florian ließ sie herein. Das Tierchen trippelte auf dem Tisch herum und von jetzt auf gleich war die Taube keine Taube mehr, sondern ein kleiner Engel mit rotem Kurzhaarschnitt und frecher Stupsnase. "Ich bin Orlanda", sagte er zu Max, "du hast mir doch neulich den Weg zum Himmel gezeigt, als ich mich verflogen hatte. Deshalb bist du doch auf die Erde verbannt worden, denn gute Taten sind der Hölle ein Greuel."

"Teufel auch", rief Max. "Nein, gerade der bist du nicht mehr", erklärte der Engel Orlanda mit sanftem Lächeln, "durch einen Fehler bei deinem Entstehen hat dein Körper die Gestalt eines Teufels angenommen, deine Seele aber ist nach wie vor die eines Engels." - "Engel auch!" Max war perplex. "Jetzt weiß ich, warum es mir immer so schwer fiel, Böses zu tun. Aber was geschieht denn nun mit mir?" - "Habe Vertrauen", riet ihm Orlanda und flog hinaus.
Eine wunderschöne Musik erfüllte plötzlich den Raum, und als sie endete, war Max kein Teufelchen mehr, sondern er stand in der Gestalt eines menschlichen Jungen vor Florian und sah irgendwie befreit aus. "Jetzt brauchst du mich nicht mehr im Schrank zu verstecken und kannst mich deinen Eltern und Freunden zeigen, Florian", sagte er, "darf ich vielleicht dein Bruder sein?"

"Wenn es nach mir geht, immer", sagte Florian "aber Buchstabenweghexen ist out, okay?" - "Na klar", meinte Max, "aber jetzt muß ich schnell einen Pfannekuchen essen. In der Hölle gab es immer nur verglühte Eierkohlen. Igitt!"


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