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25.09.04 / Und die Welt schweigt / Ohne "politische Lösung" der Tschetschenienfrage wird es noch mehr Opfer geben

© Preußische Allgemeine Zeitung / 25. September 2004


Und die Welt schweigt
Ohne "politische Lösung" der Tschetschenienfrage wird es noch mehr Opfer geben
von Bernd Posselt

Der grauenhafte Terrorakt gegen die Schulkinder in Beslan hat nicht nur Hunderte von Menschen das Leben gekostet und Tausende in Verzweiflung gestürzt, seine Hintergründe und Begleitumstände werfen zudem bei intensiver Betrachtung immer mehr Fragen auf.

In den Medienberichten war meist vom "südrussischen" Beslan die Rede. Doch die Ortschaft liegt in der russischen Teilrepublik Nordossetien, unweit von deren Hauptstadt Wladikawkas, was soviel wie "Beherrscher des Kaukasus" heißt. Schon daraus wird die strategische Bedeutung der Region ersichtlich. Die Osseten, ein einstmals mächtiges Reitervolk indoeuropäischer Herkunft, siedeln auf den nördlichen und südlichen Abhängen des Kaukasus, über dessen steile Bergketten die alte ossetische Heeresstraße führt. Sie verbindet das russische Nordossetien mit dem zu Georgien gehörenden Südossetien.

Ein Teil des jetzigen Nordossetien bildete bis zur Stalin-Ära ein Drittel des Territoriums der Inguschen, eines mit den Tschetschenen nahe verwandten Volkes, das im Gegensatz zu letzteren 1991 nicht unabhängig werden wollte, sondern sich von den Tschetschenen trennte und eine eigene autonome Republik innerhalb Rußlands bildete. Doch sie nahmen nach den beiden brutalen Kriegen, die Jelzin und Putin gegen die Tschetschenen führten, hunderttausende tschetschenische Vertriebene auf.

Gleichzeitig wuchsen ihre Spannungen mit den ossetischen Nachbarn. Seit die Inguschen aus Zentralasien und Sibirien, wohin sie Stalin ebenso wie die Tschetschenen deportieren ließ, in den Kaukasus zurückkehrten - in der Chruschtschow-Ära -, fordern sie von den Osseten ihr Land zurück. Diese, teils orthodoxe Christen, teils sunnitische Muslime, lehnen solche Ansprüche ab und stützen sich dabei seit jeher auf Moskau.

Der Kreml hat in seinen von den zaristischen Truppen Mitte des 19. Jahrhunderts eroberten und bis heute nicht freigegebenen kaukasischen Kolonien mehr noch als anderswo den alten imperialistischen Grundsatz "Teile und herrsche!" angewandt. In dieses Bild paßt auch, daß die in Georgien lebenden Südosseten von Moskau dort als trojanisches Pferd gegen die georgische demokratische Regierung eingesetzt werden. Während Rußland jeden Separatismus auf seiner Seite des Kaukasus blutig bekämpft, unterstützt es ihn im Süden so sehr, daß der Innen- und Verteidigungsminister der gegen die georgische Zentralmacht und ihren pro-westlichen Präsidenten Michal Saakaschwili kämpfenden südossetischen Aufstandsregierung ein russischer Oberst namens Anatolij Barankewitsch ist.

Diese Zusammenhänge spielten im Umfeld des Geiseldramas von Beslan eine erhebliche Rolle. So fiel es auf, daß Moskau zwar von Anfang an pauschal "die Tschetschenen" beschuldigte; doch freigekommene Geiseln wie auch Unterhändler sprachen schon zu diesem Zeitpunkt von einer gemischten Truppe unter inguschischer Führung, der aber merkwürdigerweise auch Russen und Osseten angehört haben sollen. Gleich zu Beginn der Besetzung der Schule hatte der ehemalige, wegen seiner kritischen Haltung zu Moskau vom Kreml amtsenthobene inguschische Staatspräsident Auschew mit den Geiselnehmern verhandeln dürfen und auch eine Gruppe von Müttern mit kleinen Kindern freibekommen, wurde dann aber vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB (der Nachfolgeorganisation des KGB) wieder weggeschickt. Der ossetische Präsident Dsasochow war angeblich telefonisch nicht zu erreichen gewesen. Von den ossetischen Behörden war überhaupt nur einmal die Rede, nämlich als der Innenminister zurücktrat. Das Kommando an Ort und Stelle hatten russische Generäle als deren Sprecher Generalmajor Kobaladze in Erscheinung trat.

Die in Beslan eingesetzten Truppen, die russischen Spezialeinheiten "Alfa" und "Vimpel", gelten als erstklassig ausgebildet. Militärexperten rätseln daher, wie es zu einer derartig dilettantisch wirkenden Aktion wie der angeblich versuchten Geiselbefreiung kommen konnte, die erst das Blutbad ausgelöst hat. Ob alle diese Ungereimtheiten jemals aufgeklärt werden, ist äußerst fraglich. Präsident Putin, der während der Vorgänge von Beslan erstaunlich wortkarg war und auch nicht an der Beerdigung der vielen hundert Toten teilnahm - dort wurde kein einziger Repräsentant des Kreml gesichtet -, nutzte eine seiner wenigen Stellungnahmen, um vor einer öffentlichen Untersuchung der Ereignisse zu warnen: Dies könne nur zur Verwirrung führen und politisch einseitig ausgeschlachtet werden.

Dazu paßt eine ganze Reihe von Meldungen, die allerdings in der Nachrichtenflut über die Tragödie vielfach untergegangen sind. So wurde der Chefredakteur der führenden Tageszeitung Iswestija, Raf Schakirow, wegen der Berichterstattung über das Geiseldrama auf Druck des Kreml entlassen. Der weltweit bekannte Rußlandkorrespondent des Freiheitssenders Radio Liberty, Andrej Babitsky, der schon vor Jahren die grausamen Methoden des russischen Geheimdienstes in dessen "Filtrationslagern" in Tschetschenien enthüllt hatte, war auf dem Weg zur Berichterstattung nach Beslan im Moskauer Vnukovo-Flughafen arretiert worden mit der Begründung, in seinem Gepäck könne Sprengstoff sein. Die berühmte Buchautorin Anna Politkovskaja, die für die Novaja Gazeta über Tschetschenien schreibt und wegen ihrer offenen Berichterstattung regelmäßig Morddrohungen erhält, brach im Flugzeug nach Rostow am Don, von wo aus sie das Krisengebiet besuchen wollte, mit Vergiftungserscheinungen zusammen. Zwei georgische Fernsehjournalisten, Nana Leschawa und Lewan Tedwadse, wurden an der Berichterstattung gehindert, weil sie keine Visa für Rußland hätten. Sie kamen in Haft, obwohl sie aus dem russisch-georgischen Grenzgebiet bei Kasbegi stammen und deshalb keine Visa brauchen. Auch auf offizielle Proteste der georgischen Regierung stellte sich Moskau taub.

Doch selbst in der russischen politischen Szene gibt es auch kritische Stimmen. Moskaus Bürgermeister Luschkow warf etwa die Frage auf, warum die Täter von Beslan die modernsten russischen Waffen besessen hätten: "Man muß fragen, woher sie die haben." Der russische Menschenrechtler Sergej Kowaljow, einer der wenigen vom Kreml unabhängigen Duma-Abgeordneten, rief in Berlin vor der Presse gar aus: "Unterstützen Sie Putin, wenn Sie die Gefährlichkeit der früheren Sowjetunion wiederhaben wollen."

Was aber tut Putins Freund Schröder angesichts dieser gefährlichen Gemengelage? Er sucht den noch engeren Schulterschluß mit dem Kremlchef, dem er schon wenige Tage vor Beslan beistand, indem er die völlig manipulierten Pseudo-Wahlen in Tschetschenien, im Gegensatz zur EU-Kommission, zum Europarat und sogar zum US-Außenministerium, für korrekt und frei erklärte. Fischer, von Menschenrechtlern auch in seiner eigenen Partei kritisiert, wiederholt nur stereotyp die Formel von der politischen Lösung.

Doch worin kann diese bestehen? Die russische Eroberungs- und Unterdrückungspolitik der letzten 150 Jahre hat in der Vielvölkerwelt des Kaukasus - er wird "Berg der 100 Nationen" genannt, allein in der kleinen Republik Daghestan leben 36 Völkerschaften - zahlreiche Wunden geschlagen und systematisch die Gegensätze geschürt. Wegen der geostrategischen Bedeutung dieser Gebirgsregion, durch die die Transportwege für Öl und Gas führen, glaubt Moskau an seinen kaukasischen Kolonien festhalten zu müssen. Der russische Energieriese Gazprom, der seine Rohstoffe weitgehend aus der Region um das Kaspische Meer und damit über den Kaukasus bezieht, ist nicht nur die wichtigste Säule der russischen Wirtschaft, sondern auch das entscheidende Instrument für Putins Außenpolitik. Die Abhängigkeit Europas etwa vom russischen Gas und Öl wächst ständig an. Während Moskau die Volksgruppen auf der von ihm beherrschten Nordseite des Kaukasus gleichzuschalten und durch das Schüren innerer Konflikte zu schwächen versucht, fördert es nach Unabhängigkeit strebende Nationalitäten in den selbständigen südkaukasischen Staaten, nicht zuletzt auch, um dort alternative Pipeline-Projekte zu stören. Mitten in diesem Spannungsfeld leben die einstmals knapp 800.000 Tschetschenen, von denen aufgrund der von Jelzin und Putin entfesselten Kriege etwa 150.000 bis 200.000 ums Leben kamen - darunter etwa 40.000 Kinder - und Hunderttausende vertrieben wurden. Ihr Land ist völlig zerstört und kann von dem vom Kreml eingesetzten Marionettenregime, das auch durch die Scheinwahlen jetzt nicht legitimer wurde, nicht befriedet werden. Der Urnengang Ende August war eine derartige Farce, daß zum Beispiel Zeitungskorrespondenten, ohne im Wahlregister gemeldet zu sein, in einem halben Dutzend Wahllokale ihre Stimme abgaben, wo man sie begeistert empfing, weil sonst niemand gekommen war. Der einzige im Volk einigermaßen anerkannte Bewerber um das tschetschenische Präsidentenamt, Saidulajew, wurde auf Befehl Putins von der Kandidatenliste gestrichen. Der unter Aufsicht der OSZE 1996 gewählte Präsident Maschadow ist in den Untergrund abgedrängt, wegen des Geiseldramas von Beslan setzte der Geheimdienst FSB jetzt ein Kopfgeld von 8,5 Millionen Euro auf ihn aus, obwohl er sich von Anfang an klar von dem Terrorakt distanziert hatte. Faktisch herrscht heute in Tschetschenien, soweit es russisch kontrolliert wird, der jugendliche Chef einer Todesschwadron, Ramsan Kadyrow, dessen bei einem Sprengstoffattentat umgekommener Vater zuvor der von Putin eingesetzte Marionettenpräsident war. Sohn Kadyrow konnte allerdings das Amt seines Vaters nicht wie von seinem Clan und auch von Moskau gewünscht übernehmen, da er noch nicht das notwendige Mindestalter von 30 Jahren erreicht hat. Deshalb die Wahlfarce, die den vom Kadyrow-Clan abhängigen Karrierepolizisten Alcha- now provisorisch an seiner Stelle installierte.

Dies alles ist keine politische Lösung. Sie kann nur auf einem russischen Truppenabzug aus Tschetschenien, auf vom Europarat, dessen Mitglied Rußland ja ist, kontrollierten Wahlen sowie auf einer internationalen Kaukasus-Konferenz basieren. Eine solche Konferenz darf nicht, wie bisher in der Geschichte üblich, über die Köpfe der betroffenen Völker hinweg entscheiden, an ihr müssen deren legitimierte Repräsentanten teilnehmen, aber auch die Anrainer- staaten des Kaspischen Meeres und die Vertreter der gegensätzlichen geostrategischen Interessen, ohne die vor allem die Rohstoffkonflikte nicht überwunden werden können - USA, Rußland und EU. Zu einer solchen Politik wird Putin jedoch niemals finden, wenn Europa und die USA mit ihm nicht endlich Klartext reden. Läßt man ihn weiter widerspruchslos oder gar servil seinem Irrweg folgen, könnten sich russischer Staatsterror und die Nationalitätenkonflikte ausnutzender Terro- rismus so ineinander verbeißen, daß zumindest für die Tschetschenen die Worte "politische Lösung" und "Endlösung" gefährlich ähnlich zu klingen drohen.

Bernd Posselt (CSU), ist Mitglied des Europaparlaments, Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft und seit 1975 führend in der Paneuropa-Union tätig, seit 1998 als deren deutscher Präsident.

Am falschen Grab: Putin mit seinem neuen tschetschenischen Präsidenten Alu Alchanow (l.) und Ramsan Kadyrow, dem Sohn des ermordeten Amtsvorgängers. Foto: Reuters


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